Sonntag, September 4, 2005, 12:51 - BÜCHER
Neues zur «Ur-Lolita»: Michael Maar führt elegant den Indizienprozess.(Den nachfolgenden Text verlinke ich nicht, weil die NZZ-Artikel im Netz meistens nach etwa zwei Wochen wieder verschwinden und nur noch für Abonnenten im Archiv greifbar sind):
Im März 2004 überraschte der Literaturkritiker Michael Maar die Nabokov-Fangemeinde mit einem Fund: 1916 hatte der drittklassige Autor Heinz von Lichberg eine schwülstige Novelle unter dem Titel «Lolita» veröffentlicht. Die Handlung liest sich wie eine Zusammenfassung von Nabokovs Erfolgsroman von 1955: In Alicante verfällt ein reifer Mann einem jungen Mädchen, das Lolita heisst. Aufgrund der frappierenden Ähnlichkeit von Titel, Plot und Name der Protagonistin entwickelte Maar eine «Kryptomnesie»-These: Nabokov habe Lichbergs Text während seiner Berliner Zeit zur Kenntnis genommen, später vergessen und schliesslich unbewusst wieder aufgegriffen.
Nabokov-Experten reagierten damals skeptisch auf Maars Sicht der Dinge. Mittlerweile hat Maar seine Interpretation zu einer schmalen Monographie ausgearbeitet, die auch einen Nachdruck von Lichbergs «Lolita» enthält. Maar präsentiert nun eine Reihe von Textstellen, die sogar eine bewusste Anspielung auf Lichbergs Novelle nahe legen. In Nabokovs Roman erinnert sich Humbert beim Anblick der badenden Lolita an die «spanische Tochter eines Aristokraten mit wuchtiger Kinnlade» - es ist durchaus möglich, dass der listige Meister in diesem scheinbar blinden Motiv eine Fährte zum Nationalsozialisten von Lichberg und seinem literarischen Kind aus dem Jahr 1916 gelegt hat. Dasselbe gilt für Nabokovs Drehbuch zum eigenen Roman: Lolita wird in einer Regieanweisung «kleine Gioconda» genannt - Heinz von Lichbergs Novelle erschien in einem Erzählband mit dem Titel «Die verfluchte Gioconda».
Überdies verweist Maar mit «Atomit» auf ein weiteres Prosastück aus der Feder von Lichbergs, das die Handlung von Nabokovs Drama «Walzers Erfindung» vorwegnimmt - auch der Familienname «Walzer» taucht bereits in der Lichberg-«Lolita» auf. Schliesslich zählt Maar eine Reihe von Namen aus Nabokovs späteren Werken auf, in denen der deutsche «Lolita»-Autor klanglich umspielt wird: Osberg, von Borg, Dalberg. Nabokov gilt als Liebhaber solcher Mystifikationen: Ursprünglich sollte «Lolita» unter einem Pseudonym erscheinen, weil Probleme mit dem prüden amerikanischen Sittengesetz absehbar waren. Allerdings sicherte sich der Autor eine geheime Präsenz in seinem Text, indem er eine Frau mit dem anagrammatischen Namen Vivian Darkbloom auftreten liess.
In seiner knappen Darstellung legt Michael Maar ein Kabinettstück literarischer Spürarbeit vor, die allerdings einen offenen Schluss hat. Der schlagende Beweis einer direkten Verbindung zwischen Lichberg und Nabokov steht noch aus, gleichwohl gelingt es Maar, einen Indizienprozess zu führen, in dem sich das Zufällige in Wahrscheinliches verwandelt.
Ulrich M. Schmid in der NZZ vom 03.09.2005.
Michael Maar: Lolita und der deutsche Leutnant. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2005. 100 S., Fr. 27.10.