Sonntag, Oktober 9, 2005, 00:32 - BÜCHER
Je näher dem Tod, desto gelöster, unkonventioneller schrieb sie, mit einer sachte aufkommenden Leichtigkeit, mitunter gar mit einem bei ihr doch eher ungewohnten Anflug von Heiterkeit, die erstaunt und zugleich hoch erfreut: Undine Gruenters Pariser Libertinagen, posthum erschienen im Hanser Verlag, habe ich mit wirklich ganz grossem Genuss gelesen, wie zwar schon alle ihre Bücher zuvor - doch dieses hier setzt ihrem subtilen Werk die Krone auf. Finde ich; und mag absolut keinen Widerspruch dulden jetzt.(...) Helen hatte mich abgeholt, eine mit meiner Schwester befreundete Übersetzerin, die sich für ein halbes Jahr im 8. Arrondissement eine, wie sie sagte, 'möblierte Garçonnière' gemietet hatte, um Abstand zu gewinnen, wie sie sagte, Abstand von einem Geliebten, der bereits drei Frauen und doppelt so viele Kinder hatte, und wie üblich überstieg die Miete ihre finanziellen Mittel. Eine Liebesgeschichte, deren Auszüge ich bereits fragmentarisch aus Gesprächen kannte, die sich zuweilen einen düsteren Anstrich gab und von Verzweiflungsanfällen und überhöhtem Schlafmittelkonsum bis zu Liebesorgien in Gänseleberpastete alle Stadien einer tränenreichen Herzenstragödie durchlief. Als ich ankam, war gerade die Neuauflage oder ein Nachschlag der Gänseleberpastete an der Reihe, der Geliebte, ein Mann mit gelben Wildlederschuhen und durchbrochenen Schweinslederhandschuhen für Autofahrer, war zu Besuch und erwartete uns in der Wohnung, und ich lernte, dass Paris, die Stadt der Liebe, wie es hiess, vor allem die ihrer Abwesenheit war, und ein Geruchsgemisch aus Schneeregen, Sandstein, Balkongitter und lauwarmer, gegen Mitternacht auf dem breiten, himmelblau überzogenen Bett verspeister Gänseleberpastete. (...)
(Ausschnitt aus dem Kapitel "Paris, Anfänge")