Über die Abwesenheit störender Dinge. 
Freitag, Dezember 30, 2005, 10:36 - PRESSE
Ich kann mich an keine Zeit in meinem Leben erinnern, in der ich mich nicht einsam gefühlt hätte. Und ich habe kein Problem damit. Einsamkeit ist der Deal des modernen Lebens, die Vertragsgrundlage. Dennoch scheint mir Einsamkeit das letzte Tabu in unserer Welt zu sein. Wir werden dauernd davon abgelenkt, der Einsamkeit wirklich zu begegnen. Die Vermeidung der Einsamkeit verleitet uns dazu, all dieses unnütze Zeug zu kaufen, das uns zerstreuen soll. Würden wir akzeptieren, wie allein wir wirklich sind, ginge es uns viel besser. Wir wären viel eher in der Lage, gute Gesellschaft zu finden und ein friedvolles, ungestörtes Leben zu leben.
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Es gibt Umgebungen, die einem dabei helfen können. Ein Hochmoor oder ein weite Ebene. Mein Lieblingsort ist immer dort, wo Wind weht. Oder in Stille mit einem Menschen, mit dem man gemeinsam allein sein kann. Einfach da sein. Den Klang der eigenen Ohren hören. Den Atem. Stille ist sehr inspirierend für mich.
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Ich wohne abgelegen im Norden Schottlands. Wenn Leute von Wildnis sprechen, hat man oft den Eindruck, dass man dort eisern durchhalten muss. Es ist mir beinahe unangenehm zu sagen: Die Wildnis ist mir ein behaglicher, ein tröstender Ort.
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Unweit unseres Hauses gibt es einen großen, weiten Strand. Eine absolut klare Umgebung. Wenn ich nicht dort sein kann, träume ich von einem Strand, wie dem in "A Matter Of Life And Death" von Michael Powell, einer meiner Lieblingsfilme. Es gibt da diese herrliche Szene, in der fällt ein Mann aus einem Flugzeug und überlebt auf wundersame Weise. Aber er nimmt an, er sei tot. Weil er sich an einem unglaublich breiten, menschenleeren Strand wiederfindet. Die Szene spielt in England. Es ist ein nordeuropäischer Strand, mit Dünen und einem riesigen Himmel darüber. Der Mann sieht auf und entdeckt einen kleinen Jungen, der leise Flöte spielt. Also nimmt er an, er sei im Himmel. Ich liebe diese Szene. Wenn ich irgendwo auf der Welt unterwegs bin und mich an einen Ort träume, an dem ich gerade am liebsten wäre, dann an diesen.
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Auch deshalb erscheint mir Einsamkeit als etwas Freundliches: weil ich mich dort nicht nach den Vorstellungen einer Gruppe richten muss.
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Ebenso wenig wie an die Illusion einer Menschengemeinschaft glaube ich an das Glück als Lebensziel. Mir scheint sogar das Streben nach Glück, so wie es in der amerikanischen Verfassung formuliert ist, eine falsche Spur zu sein. Ein Ablenkungsmanöver. Nach Glück zu streben, das ist wie das Streben nach Vanille-Eis. Es ist ein angenehmer Geschmack, aber nicht etwas, was man tatsächlich verfolgen kann.
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Es gibt einen wunderbaren Essay von Robert Louis Stevenson, AN APOLOGY FOR IDLERS, den ich nur nachdrücklich empfehlen kann. Stevenson ist einer meiner großen Helden, er hat ähnlich empfunden wie ich. Er wusste, dass wahres Glück einem zufliegt. Einsamkeit kann dieses Glück ermöglichen. Durch die Abwesenheit von Dingen, die stören.

Der vollständige Text ist hier zu finden - Tilda Swinton: Ich habe einen Traum.
Aufgezeichnet von Ralph Geisenhanslüke in DIE ZEIT Nr. 49/01.12.2005.

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