Dienstag, Juni 3, 2008, 23:18 - GELESENES
...ich ging zur Schule, und – wichtige Einzelheit – ich schlief im gleichen Raum wie meine Eltern. Abends hatte mein Vater die Gewohnheit, meiner Mutter vorzulesen. Obgleich er Priester war, las er Beliebiges und meinte gewiss, dass ich in einem Alter wäre, in dem ich noch nichts verstehen könnte. Im allgemeinen hörte ich nicht zu und schlief ein, es sei denn, dass es sich um einen fesselnden Bericht handelte. Eines Nachts spitzte ich die Ohren. Es war in der Lebensbeschreibung Rasputins die Szene, in welcher der sterbende Vater seinen Sohn kommen lässt, um ihm zu sagen: „Geh nach St. Petersburg, werde zum Herrn über die Stadt, scheue vor nichts zurück und fürchte niemanden, denn Gott ist ein altes Schwein.“ Eine solche Ungeheuerlichkeit im Mund meines Vaters, für den Priester zu sein kein Scherz war, beeindruckte mich wie eine Feuersbrunst oder ein Erdbeben. Doch erinnere ich mich auch sehr klar – es ist mehr als fünfzig Jahre her – dass meine Aufregung durch ein seltsames, ich wage zu sagen, ein perverses Vergnügen abgelöst wurde.E.M. Cioran