Sonntag, Juni 29, 2008, 23:49 - LEBENSLAUF
... taucht sie auch heute ganz unvermittelt, rund eine Stunde vor Konzertbeginn, einfach mitten unter den ganz gewöhnlichen Leuten auf, stöhnt über die beinahe unerträgliche Hitze, vor allem über die unglaublich hohe Luftfeuchtigkeit, welche sie völlig schlapp mache, und eilt nach draussen, vor den Eingang des Auditoriums, wo sie zu einer Zigarette greift, sich dort auf ein kühlendes Mäuerchen im Schatten setzt und der Dinge harrt, die da kommen werden – zum Beispiel die in unregelmässigen Abständen eintreffenden alten Bekannten und Familienmitglieder, welche sie alle überaus herzlich empfängt. Von der Presse ist niemand da – das erklärt ihre Unbefangenheit, denn auf die Presse, besonders auch auf die Photographen, ist sie nicht gut zu sprechen. So greift denn auch wohlweislich niemand unter den anwesenden, gewöhnlichen Leuten zum Photoapparat... Hingegen ein wenig small-talk mit denjenigen, die sich getrauen, sie anzusprechen, wenn gerade niemand zum Empfang oder zur Begrüssung ansteht – das macht sie fürs Leben gerne, und in allen möglichen Sprachen.Im Grunde genommen habe ich etwas Pech an diesem Tag: Da ist erstens einmal das Ristorante POSTA, das ausgerechnet und ausnahmsweise heute, zu meinem grossen Bedauern, geschlossen ist - ich hatte eigentlich vorgehabt, dort zur Feier dieses einzigartigen Konzert-Tages ausgiebig draussen im schönen Garten zu tafeln… Zweitens wird Tochter Lyda dieses Jahr, entgegen allen Ankündigungen, nicht in Lugano konzertieren – sie ist nämlich gerade selber Mutter geworden – und drittens, zu meinem mindestens ebenso grossen Leidwesen, fehlt auch Gabriela Montero… wieso, das bleibt ein Rätsel – sie hat weder Lugano noch Verbier auf ihrem diesjährigen Konzertplan, wie ich weiss, daher ist ihre Absenz zumindest für mich nicht ganz unerwartet. Wieso ist sie dann aber im Programm aufgeführt?
Trotz dem Umstand, dass Lyda und Gabriela fehlen und heute Abend zudem Italien gegen Spanien spielt, ist das Auditorium bis auf ein paar wenige Einzelplätze voll besetzt, das Konzert, wie immer, auf hohem bis höchstem Niveau; sogar Martha, welche erst im zweiten Teil ins Geschehen eingreift, lässt sich nichts von der sie lähmenden Schlappheit anmerken. Im Gegenteil.
Nach dem Konzert fahre ich für einmal sofort heim – ich werde heute nicht, wie schon beinahe üblich, mit ins Restaurant gehen, wo sich die ganze Musiker-Grossfamilie üblicherweise nach den Konzerten zum Essen, Plaudern und Feiern trifft und man, einfach so, und vorausgesetzt, man weiss davon, ganz unauffällig mit dabei sein und an Momenten teilhaben kann, für die man gegen kein Geld der Welt eine Eintrittskarte kaufen könnte – die Arbeit ruft, die Pflicht, ich muss fit sein am nächsten Morgen, und von Lugano nach Bern sind es immerhin gut und gerne vier Stunden Fahrt.
Ich habe für dieses Jahr genug gesehen, genug entdeckt. Die alten Getreuen. Die neuen Talente. Tochter Annie erstmals. Tochter Stefanie, auch zum ersten Mal - mit ihrer Filmkamera ständig die normalerweise in alle Welt verstreute Familie festhaltend.
Aber ich bin ja wohl bei weitem nicht der einzige, der da hart arbeitet – ich weiss, dass Martha [man möge verzeihen, dass ich die Grande Dame mit Martha anspreche; es ist nicht fehlender Respekt, vielmehr der Umstand, dass alle sie hier so nennen, La Martha, mit allergrösster Hochachtung, und ich habe das einfach so übernommen, mit der allergrössten Selbstverständlichkeit] – dass Martha also oft noch, lange nach dem späten Nachtessen, ins Studio zurückkehrt, nicht selten begleitet von einzelnen oder mehreren Mitmusikern, und die ganze Nacht hindurch übt und musiziert, bis zum Morgengrauen – sie ist ein Nachtmensch durch und durch, das ist bekannt, und es ist kein Zufall, dass der einzige Aussenstehende, dem sie je erlaubte, in ihre Intimsphäre einzudringen und eine filmische Dokumentation über sie zu drehen, Georges Gachot, dies in der Nacht tun musste, tun durfte. – [Evening talks, conversation nocturne], so denn auch sinnigerweise der Titel des Films, der im Juli endlich, endlich auf DVD erscheinen wird. Ja, ich wiederhole mich wieder einmal, ich weiss, doch so ist das Leben eben auch, ist stets und immer wieder auch Wiederholung. Leider. Zum Glück.
Solche und ähnliche und noch viel mehr Gedanken schwirren mir durch den Kopf, während ich Bern entgegensteuere (und später, während ich das alles aufschreibe) - und übers Autoradio erfahre, dass die Italiener gegen Spanien ausgeschieden sind.
So what – was ist das schon, die Euro 08, verglichen mit Martha 08.