Der Mond als poetische Erscheinung. 
Samstag, Juni 16, 2012, 10:08 - BÜCHER
Die Sonne ist eine Wohltäterin, der wie allen Wohltätern nur wenig zur Tyrannei fehlt. Sie anzubeten, ist eine der ältesten Religionen und einer der modernsten Kulte. Sie lässt sich nicht ansehen und stürzte doch die Menschen in Angst und Schrecken, wenn sie sich verfinsterte. Das Verhältnis der Menschen zur Sonne ist triebhaft; sie sind bereit, alle Hüllen fallen zu lassen, damit der Strahl sie bis in die letzten Winkel erreicht, mit vielen schönen Begründungen, die noch niemals jemand ernst genommen hat, wie es bei Dingen zu sein pflegt, von denen jeder weiss, dass sie stärker sind als Gründe. Es gibt nichts Vergleichbares zu dieser Abhängigkeit, zu diesem Genuss unter der Fuchtel eines Despotismus, dem zumindest keiner zu widersprechen wagt.
Dies alles verhindert, dass es eine Poesie der Sonne, eine Ästhetik ihrer poetischen Erscheinung geben könnte. Wo man in der Pflicht steht, singt man nicht. Die poetische Erscheinung könnte nur etwas sein, was in diesem Verhältnis unseresgleichen ist, was unter dem Aufgang der Sonne zu seiner Fülle und seinem Glanz kommt, durch ihren Untergang schwindet und vergeht bis zu dem Punkt, wo es scheint, es könnte nicht gewesen und niemals wieder sein. Dieses, was im Verhältnis zur tyrannischen Sonne unseresgleichen ist, ohne uns zu gleichen, ist der Mond. Niemand hat unter ihm je gelitten (...)

Aus: Hans Blumenberg - Die Vollzähligkeit der Sterne.

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