Zürich war mir zu eng geworden wie ein ... 
Freitag, August 23, 2024, 18:38 - BÜCHER
...wie ein ausgewachsenes Kleid. Es begann mich zu bedrücken.
In der Schweiz fühlte ich mich unterernährt, auf seelische Diät gesetzt. Da war keine Lebenszufuhr mehr.

Ich muss mir überlegen, was es mit dieser Selbstausweisung aus der Schweiz auf sich hatte, auf sich hat. Es war ein Gefühl wie: das Leben verpassen.

Da war diese für mich aufreizend selbstgenügsame Mentalität. Wir Schweizer waren noch bis an die Schwelle des Ersten Weltkriegs ein eher armes Land und Volk gewesen, ohne Bodenschätze, ohne genügend ländliche Reserven, wenn man die unfruchtbaren Bergmassive einbezieht. Wir hatten diese Devise der immerwährenden Neutralität entwickelt, was sich auszahlte. Aber Neutralität, das ist auch Desinteresse, institutionalisierte Meinungslosigkeit nach aussen, um was zu mästen? Den Eigennutz. Die Schweiz wurde ein Bankiersland, unter anderem. Die Mentalität wurde immer mehr: erzmaterialistisch und ideen-, idealismusfeindlich. Das Haushalten, Sparen, Putzen, Werkeln ... als Lebensinhalt.

Man kam so durch zwei Weltkriege und ging als Kriegsgewinnler daraus hervor. Man lebte rückwärtsbezogen und weltblind. Man monumentalisierte Freiheitsmythen und partizipierte schamlos an der Ausbeutung aller armen Nationen, auch am Verbrechen (die Fluchtgelder der Mafia, der Nazis, der südamerikanischen Bluttyrannen etc.). Und dabei mimte man nach aussen immer diesen Biedersinn und Puritanismus, man kultivierte den Bigottismus des armen Mannes (als Tugend den Geiz), man verbot sich den Genuss des Lebens, das Zeigen des Reichtums, man hatte immer die Kummerfalten im Gesicht und auf der Stirn, man meckerte, krittelte höhnisch, selbstgerecht, scheinheilig, missgünstig an allen Nationen herum, man hielt sich heraus und dachte, die Verschonung habe aufgrund eines Besserseins, Klügerseins, Schlauerseins stattgefunden, man idealisierte insgeheim diese Tugenden. Man kam ohne Welt aus. Und man verzichtete auf alle Experimente, Entwürfe, Wagnisse, man lebte - nach aussen - im Gewand des schaffigen Biedermanns weiter und mästete die Banken und Konten und Sparstrümpfe - und lachte sich ins Fäustchen. Man lebte in einer Art luftleerem Raum, in einer Art Vakuums-Sonderfall-Mässigkeit und liess das Leben nicht an einen heran. Man profitierte von der Welt, die man ausschloss. Und die Mentalität und die Lebensgeister begannen diese aschgraue Freudlosigkeit, Hämischkeit anzunehmen, den Stagnationscharakter. Es gab keinen Anlass zur Bewegung in einem Land und Volk, das nach diesem Lebensrezept funktioniert. Keine Streiks, keinen Klassenkampf, einen ewigen Arbeitsfrieden mit gemässigtem Wohlstand. Überfluss, Grosszügigkeit, Verschwendung, aller Glanz, alle Schönheit waren des Teufels. Nur das nicht. Man lebte immer sicherer, stabiler, versicherter, eiserner und all das auf Kosten des Lebens. Man lebte gar nicht, Leben war Risiko, kein Risiko gefälligst.

Das ergab als Lebensstimmung und Gesamtatmosphäre diese Sterilität und Lebensunähnlichkeit, vor der mir grauste. Die versteinerte Graue-Socken-Stimmung. Nichts wegwerfen, nichts verändern. Nur ja keine Neuschöpfung, grosszügige Planung, kein Projekt, keine Zukunft. Nur immer Haushalten und Ausbessern und Pützeln.
Man lebte solchermassen scheinheilig, missgünstig, verdriesslich, und all das wurde als nationale Tugend erklärt. Nur keine Freude, kein Elan, keine Veränderung, kein Animus. Immer diese Tarnkappe der Verdriesslichkeit - als Lebenstaktik. Und der Weltteufel soll uns ausgetrieben sein und es ein für allemal bleiben. Die Schweiz wurde der arme geizige reiche Mann Europas, der sorgenvoll, kummervoll und kümmerlich in seinen grauen Kleidern und Strümpfen, versagungsvoll, salbungsvoll und selbstsüchtig, insgeheim besserwisserisch in seinen alten Klamotten umgeht, freudlos-neutral muss die Stimmung sein; und dabei stopft er den Sparstrumpf. Er neidet den Grossfüssen und Springinsfelden und Leichtfüssen draussen, er neidet den Lebenden, Riskierenden und alles Verlierenden oder auch Gewinnenden ihre Lebendigkeit. Er geht in der besagten Tarnung um, um nicht aufzufallen, ja kein Gegenstand der Aufmerksamkeit, gar des Neides zu werden, er gibt sich seufzertraurig und gedeiht und gedeiht, aber er darf nicht in den Genuss des Erschafften gelangen, da darf nie etwas angerührt und ja nichts veräussert werden, er lässt das Geld liegen und legt es an, legt es an und beiseite und lebt das Leben des bescheidenen Mannes; und der verheimlichte Reichtum oder Bankenwert, Kontenwert, der nie verflüssigt, nie in Lebensgenuss umgesetzt wird: Diese Doktrin kehrt sich gegen den Inhaber, er wird immer gehässiger, missgünstiger, er hat zwar recht, hat aber nicht eben viel vom Leben, also sollen all die anderen verdammt sein, die nicht diese schweizerische Tugend vertreten. Der Schweizer wird vor lauter Frustration böse und aggressiv, die Tram fährt nicht, um Leute zu befördern, sondern sie ruckt und stockt und behindert alle statt zu fahren; und der Mann im Führerstand übertreibt diese Fortbewegung, er bremst dauernd, weil er im Rückspiegel voller Missvergnügen auf die Fahrgäste schaut und hofft, dass sie sich die Köpfe anstossen, eigentlich ist das der Sinn des Fahrens. Frustration.

Aus: Paul Nizon "Das Drehbuch der Liebe", Journal 1973 - 1979, Seiten 235 - 238, Verlag Suhrkamp, Erste Auflage 2004

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