Zuhause würden wir uns ärgern... 
Samstag, November 26, 2005, 10:25 - ÜBRIGES ITALIEN
Unterwegs - Zugfahren, sardisch.
rtr. Jetzt pfeift er, laut und schrill, wir nahen uns einer Kreuzung. Er steht auf dem Trittbrett des Zuges, klammert sich mit der einen Hand am Türgriff fest, schwingt mit der anderen eine Fahne, deutet, fuchtelt, weist die Autofahrer in Schranken. Denn sichtbare Schranken, Bahnschranken, gibt es hier nicht. Das ist Zugfahren in Sardinien, «Trenino verde», zu Deutsch: das grüne Bähnchen. Auf dem letzten Streckenabschnitt, ganz im Norden der Insel, wird der Zug von der Lokomotive geschoben. Vorher, als sie noch zu ziehen hatte, kündigte ihr Führer die Überquerung einer Strasse mit dem Zugshorn an, laut und eindringlich. Oder aber es preschte kurz vor unserer Ankunft ein Fiat Panda heran, eine Person sprang heraus, kurbelte die Barriere hinunter und hob die Hand zum Gruss.
Dicht vor unseren Gesichtern schwingen dicke Stoffvorhänge hin und her. Schieben wir sie zur Seite, schlagen sie uns beim nächsten Ruck um so kräftiger um die Ohren. Erst später sehen wir bei unseren lautstarken Abteilsnachbarn, wie das Problem zu lösen ist. Die Ragazzi haben die dunkelblauen Stofffetzen kurzerhand zum Fenster hinausgestülpt und eingeklemmt. Sie zeigen noch anderes: wie man Kunststoffbänder flicht, sie in Stücke beisst und herumspuckt. Hin und wieder schaut ein beleibter Schaffner ins Abteil, mahnt mit erhobenem Zeigefinger zu Ruhe und Anstand.
Letzter Halt vor der Endstation, Palau Marina, ein Badeort. Die meisten Passagiere steigen hier aus, verbringen ihren Sonntag am Strand. Abends wird der Zug die Menschen wieder einsammeln, jedes Wochenende dasselbe, morgens hin, abends zurück. Abfahrt um sechs Uhr, gab uns die telefonische Auskunft bekannt. «No, no, alle sei e mezzo», versichert uns aber jetzt der Pfeifer, der nach getaner Arbeit neben der Tür steht und die Fahrgäste persönlich verabschiedet. Tatsächliche Abfahrt ist schliesslich - man nimmt es im Süden nicht so genau - um sieben Uhr. Also warten wir halt, essen Gelati und realisieren, dass, was uns in der Schweiz längst geärgert hätte, uns hier nur schmunzeln lässt.
(NZZ 275/24.11.2005)

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