Der Irrtum des Wunschdenkens. 
Donnerstag, Dezember 22, 2005, 15:28 - PRESSE
Unter diesem Titel führt Daniel Amman in der Weltwoche Nr. 50/15.12.2005 die Analyse messerscharf und frei vom verhängnisvollen FVTV ("falsch-verstandene-Toleranz" - Virus):

Darf ein muslimisches Mädchen vom Turnen dispensiert werden? Nein. Der jüngste Entscheid zur Integration ist sexistisch, bigott – und die Spätfolge eines fatalen Fehlurteils.
Ein neunjähriges Mädchen im Berner Dorf Stettlen, so entschied die lokale Schulkommission, wird vom obligatorischen Schwimm- und Sexualunterricht dispensiert. Es darf zudem nur teilweise ins Turnen und nicht ins Schullager. Die Eltern der Drittklässlerin, strenggläubige Muslime aus Libyen, die seit gut einem Jahr als Asylbewerber im Dorf leben, hatten dies aus religiösen Gründen verlangt. Dass ihr Gesuch letzte Woche gutgeheissen wurde, ist verhängnisvoll.

Es ist, erstens, ein sexistischer Entscheid, weil er eines unserer wichtigsten Grundrechte verletzt: «Mann und Frau sind gleichberechtigt», hält Artikel 8 der Bundesverfassung fest. «Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit.» Das Mädchen aus Stettlen, das steht ausser Zweifel, wird aufgrund seines Geschlechts diskriminiert. Denn die Söhne strenggläubiger Muslime dürfen baden und turnen, ins Klassenlager und aufgeklärt werden (ohne dass sie erkennbaren Schaden nähmen). Nur den Töchtern wird das verwehrt, weil sie sich verhüllen müssen, weil sie Buben nicht berühren sollen und weil sie nicht ohne männlichen Verwandten ausser Haus übernachten dürfen.

Es ist zweitens ein bigotter Entscheid, weil er die Unterdrückung eines Mädchens akzeptiert und die Religionsfreiheit seiner Eltern höher gewichtet. Und unterdrückt ist dieses Mädchen offensichtlich: Es wird von klein auf der Freiheiten beraubt, die anderen Kindern zustehen. Es wird schon als Neunjährige ausgegrenzt, ausgeschlossen, isoliert. Wer das bestreitet, begreift nicht, was man unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit diesem Mädchen verwehrt: die freie Entfaltung. Schullager etwa, das wissen wir alle aus eigener Erfahrung, sind sozial eminent wichtig. Dort werden Freundschaften geschlossen und vertieft, dort wird erste Körperlichkeit erlebt und Gemeinschaftsgefühl entwickelt, dort sind viele Kinder zum ersten Mal länger von zu Hause weg. Dort lernen sie Dinge, die für ihr Leben wichtiger sind, als den Gemeinen Schneeball im Herbarium richtig bestimmen zu können. Sich zu integrieren, zum Beispiel. Die Religionsfreiheit darf nicht dazu herhalten, Unfreiheit zu rechtfertigen und Errungenschaften, die Generationen von Frauen und Männern nicht zuletzt gegen die christlichen Kirchen erkämpften, leichtfertig preiszugeben.

Es ist drittens ein missratener Entscheid, weil er Immigranten aus anderen Kulturkreisen das Signal vermittelt, Integration sei ein Wunschkonzert. Der Vater des neunjährigen Mädchens, so hört man aus Stettlen und findet das einigermassen befremdend, will es «vor westlichen Einflüssen schützen». Wer aber in der Schweiz lebt – egal mit welcher Religion oder Nationalität, egal ob als Arbeiter aus Luzern oder als Asylbewerber aus Libyen –, muss die fundamentalen westlichen Werte akzeptieren, auf denen die bürgerlichen Demokratien fussen. Dazu gehören der Rechtsstaat, die Gleichberechtigung, das Privateigentum, der säkulare Staat und die Auffassung, dass der Mensch ein selbstverantwortliches Individuum ist. Bei diesen Grundwerten gibt es keine Kompromisse. Das ist kein Ethnozentrismus, kein Rassismus, kein mangelnder Respekt für Andersgläubige, sondern das ist die unerlässliche Voraussetzung unserer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft. Diese Grundwerte, das darf nicht vergessen gehen, sollen nicht zuletzt alle Bewohner dieses Landes schützen, Schweizerinnen wie Immigranten, die ihre Religion als Privatangelegenheit leben oder nicht an einen Gott glauben. Auch Mädchen, die gerne mit anderen Kindern baden oder kein Kopftuch tragen möchten.

Es ist viertens leider ein nachvollziehbarer Entscheid, weil das Bundesgericht den Schulen die Hände band. 1993 bewilligte es, gegen den Willen aller zuständigen Behörden, eine Zweitklässlerin im Kanton Zürich aus religiösen Gründen vom Schwimmunterricht zu dispensieren. «Das Verbot des gemischtgeschlechtlichen Schwimmens von Kindern, das von strenggläubigen Angehörigen des Islams befolgt wird», heisst es im Urteil, «fällt in den Schutzbereich der Religionsfreiheit.» Dass dieses Verbot diskriminierend ist, weil es in der Realität nur Mädchen betrifft, war den höchsten Richtern keinen Satz wert. An dieses Urteil halten sich Schulkommissionen wie die in Stettlen, wollen sie nicht vor Gericht gezogen werden.

Es ist an der Zeit, dass eine mutige Schulbehörde einen Prozess riskiert. Das Bundesgericht muss dazu provoziert werden, auf sein Urteil zurückzukommen. Die Chancen stehen nicht schlecht. Die Kulturkonflikte in den Schweizer Schulen haben sich in den letzten zwölf Jahren wegen der Einwanderung und der zunehmenden Religiosität verschärft, wie jede Lehrerin und jeder Lehrer bestätigen kann. Durch gutes Zureden, interkulturelle Symposien oder fragwürdige Kompromisse wird man diese Konflikte nicht bewältigen können. Falsch verstandene Toleranz, so zeigt sich in Stettlen erneut, schützt intolerantes Verhalten, das den Grundwerten unserer Gesellschaft widerspricht. Das kann nicht im Sinn des Bundesgerichts sein. Und bestimmt nicht im Sinn einer selbstbewussten, offenen Schweiz.

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