Largo dei Librari. 
Montag, April 10, 2006, 12:01 - BÜCHER
Dann und wann platzt der übliche ausländische Freund in Rom herein, um uns einen Besuch abzustatten: »He ciao, ich bin hier, was unternehmen wir heute abend, was zeigst du mir Schönes?«
Sagen wir es freiheraus:
Das trifft uns wie ein Schlag ins Genick. Von der Stadt hat dieser Freund beinahe alles gesehen, das Kolosseum, Sankt Peter, die Fontana di Trevi und die Piazza Navona, aber auch den Aventin und San Clemente, auch die Katakomben und das Foro Italico und sogar das Coppedè-Viertel, das wir ihm beim letztenmal gezeigt haben. Und doch ist er unersättlich, er giert danach, zumindest eine neue Erinnerung mitzunehmen, etwas Besonderes, ein kleines Detail, ein Eckchen, eine unvergeßliche Ansichtskarte: »Also, dear friend, was bietest du mir heute?« Wir fühlen uns verpflichtet, ihn nicht zu enttäuschen, finden es aber auch mühsam, schon wieder ein prächtiges Kaninchen aus dem Zylinder zu zaubern. Wir sagen alle Verabredungen ab und, verdammter Mist, beginnen das Album der Erinnerung auf der Suche nach einem besonderen Bild zu durchblättern, nach etwas Wundersamem, das nicht allzuviel Zeit kostet. Wir würden uns gerne mit einem Aperitif begnügen, einem kleinen Plausch und einem Tellerchen Oliven an einem magischen Ort, und dann sehen wir uns in zehn Jahren wieder. Museen – nein, Ruinen – auch nicht. Wohin also, wohin?

Der Freund ruft wieder an, um die Verabredung fest auszumachen. »Also treffen wir uns…, treffen wir uns…?« So, ich hab’s: Largo dei Librari, auf der Via dei Giubbonari, das ist der richtige Ort für uns. Es ist ein perfekter Ausschnitt, sieht aus wie die Bühne eines Theaters, die kleine Kirche der heiligen Barbara ist wie eine Gemme zwischen die Häuser des Hintergrunds eingeschnitten. Er ist Rom en miniature, das Barock der Politoys, ein Konzentrat aus Ruhe und Konfusion, aus Geometrie und vitaler Unordnung. Hoch oben, neben der Minifassade der Kirche und dem Himmelsblau, gibt es ein rührendes Fensterchen, das den Schriftstellern der Boheme gefallen hätte, es sieht aus wie das »Fenster gleich neben dem blauen Himmel« in dem alten Dachboden, den Gino Paoli besungen hat.

Aber Rom besteht nicht nur aus Kunst und Inspiration. Auf dem kleinen Platz gibt es auch ein für seine filetti di baccalà berühmtes kleines Restaurant, die, begleitet von einem Glas frischem Weißwein, die Kehle erfrischen. Um sieben Uhr abends paßt alles perfekt zusammen, die kleine Kirche, der Stockfisch, der Wein, die vertraulichen Gespräche. Der Freund genießt diesen bezaubernden Augenblick, schwört bei seinen Kindern, daß er sich noch nie so wohl gefühlt hat, und schwört, im nächsten Monat nach Rom zurückzukehren.

Marco Lodoli: Spaziergänge in Rom. Hanser, München/Wien. ISBN-10: 3-446-20742-2

Umschlagbild - im Gegensatz zu "Inseln in Rom" sonst leider ohne Photos.

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