Was glücklich macht. 3 
Samstag, Oktober 21, 2006, 18:19 - GLÜCK
Zeilen wie diese zu lesen:

(…) Aber hat er tatsächlich mehr Glück als andere? Nein, er geht nur anders damit um. Zu früh, zu spät, so viele verpasste Gelegenheiten: Man muss das Glück erkennen, wenn es einem begegnet. Er hat viele Freunde, die ihre Zeit damit vertun, auf das wundersame Ereignis zu warten, das sie erlöst, das aus ihrem Leben, das sie als triste Bleistiftskizze wahrnehmen, ein farbenprächtiges Ölgemälde macht. Freunde, die über diesem Warten blind geworden sind für die glücklichen Augenblicke. Ausserdem muss man das Glück aushalten können. Viele seiner Freunde tun alles, es zu zerstören, überzeugt davon, die Erfüllung könnte schlimmer sein als das Scheitern, getrieben von der Gewissheit, dass nichts der Hölle ähnlicher ist als das Paradies. Für sie steht fest, dass das Paradies nur existiert, bevor sie es betreten, oder dass es erst in dem Moment entsteht, in dem sie es verlassen. Sie sind erst überzeugt davon, dass etwas richtig war, wenn es vorbei ist. This lachte und hob das Bierglas.
-Prost, sagte er und stiess mit Willem an, der beschämt den Blick senkte.
-Heute kann jeder glücklich sein, sagte Arnold Leupen, du brauchst nur deinen Arzt zu fragen, Willem! Prozac bringt sogar eine trübe Tasse wie dich zum Glänzen.
-This braucht keine Medikamente, um glücklich zu sein, behauptete Henk.
Glück? Was ist Glück? Ein Anfall, der einen unerwartet überkommt und der das Gewicht des Lebens vergessen lässt? Ein sekundenkurzer Taumel? Ein Geruch, eine Farbe, eine Berührung? Ein Dauerzustand? Oder ist es etwa bloss ein Wort? Merken wir denn überhaupt, wenn wir glücklich sind? Stellt sich das Glück nicht gerade dann ein, wenn wir nicht mit ihm rechnen, wenn wir es vergessen? „Dass dir die Erde leicht sei – und du dir selber auch.“ Das hätte This Studer als Glück bezeichnet, wenn ihn jemand danach gefragt hätte, überzeugt davon, dass Glück nahezu ohne Gewicht ist. Aber einen, den man für einen Glückspilz hält, fragt man nicht nach dem Glück…
-Ich bin nicht glücklich. Ich bin zufrieden, sagte This, aber in einer Welt, in der jeder zweifelt, nörgelt und jammert, ist der Zufriedene der König. Er lebt, anders als der Glückliche, in Ruhe. Er muss sich und der Welt nichts mehr beweisen. Er hat nicht das Bedürfnis, irgend jemanden von irgend etwas zu überzeugen. Der Zufriedene hat nichts zu befürchten. Seine Zufriedenheit beruht auf der Gewissheit, am Ende der Angst zu sein. Der Glückliche dagegen fürchtet, von den Göttern für sein Glück bestraft zu werden oder, noch schlimmer, es wieder zu verlieren. Er tanzt auf dem Vulkan. Während der Zufriedene im Bett liegt und, na ja, ganz einfach zufrieden ist. (…)

Aus: Hansjörg Schertenleib: "Der Glückliche".
2005, Aufbau Verlag Berlin. ISBN 3-351-03017-7

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