Zu all dem bisherigen Missgeschick... 
Freitag, Februar 2, 2007, 00:13 - WIEN
... gesellt sich gleich ein neues:
Per Zufall verschlägt es mich in mein erstes Wiener Kaffeehaus: ins DIGLAS.
Erhebliche Konsternation.
Zuvorkommende, freundliche Bedienung - ja, sicher.
Suppe, Mehlspeise, Kaffee - ohne Tadel, bestimmt.
Doch sonst - beliebige irgendwo-und-überall-Gewöhnlichkeit.
Und das, denke ich, soll die viel gerühmte, spezielle Wiener Kaffeehaus-Atmosphäre sein?!
Verzweiflung macht sich breit.
Wieso mag (m)ich Wien nicht?

Doch am nächsten Tag - nach dem Schneesturm und noch vor dem Orkan "Olli" - wird plötzlich alles, alles gut; sehr gut sogar.
Meine erste Wien-Offenbarung.
Eine Oase.
Das Jelinek.
In Wien-Gumpendorf, im sechsten Bezirk.
"Wer's eilig hat, wird nicht bedient."
Ich bleibe stundenlang.
Und komme täglich wieder.

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Im Jelinek - "... wo die Gelassenheit ein Quartier gefunden hat."
(...) Einer der größten Schwätzer, der Philosoph Peter Sloterdijk, fliegt eigens nach Wien, nicht zu einem "künstlerischen Abendessen in der Gentzgasse" (Thomas Bernhard), aber zu einem "philosophischen Mittagstisch" beim österreichischen Bundeskanzler und seiner Ministerin, vormals Handarbeitslehrerin, die zugibt, von Sloterdijks verbalen Sturzbächen kein Wort zu verstehen. So plappert der Wanderprediger Sloterdijk vor sich hin: ein Weltendeuter und Segen spendender Friseur, dessen auswechselbare Sprachblasen (seine dicken Bücher heißen auch "Blasen", "Sphären", "Globen") kein Ende nehmen. "Bin noch immer positiv", rief meine Schwester aus dem Glaspavillon der Kinderklinik, als sie Diphtherie hatte und nicht entlassen werden konnte. Sloterdijk käme nie aus der hellen, angenehmen Kinderinfektionsstation heraus, denn er ist unglaublich positiv. Wie eine Schwangere im Endstadium, wo häufig Euphorien einsetzen.

Einer seiner Leser taucht mit diesen fetten Buchschwarten regelmäßig im Café Jelinek auf: ein auf Proselytensuche umherirrender Lebens- und Lavendeltee-Preiser, der sich "an jedem Ort der Welt" wohl fühlt, "mit Abstrichen vielleicht in Rumänien", eine Art männliche Marilies Flemming; er beugt sich über jede Nische im Café, raucht und redet und verdirbt die Gelassenheit, die hier in Gumpendorf ein Quartier gefunden hat. Seine Überfälle sind wahllos, wie bei einem Krokodil: Man ist nicht gemeint, landet aber doch in seinem Rachen. (...)

Aus dem schmalen Buch mit dem goldenen Schutzumschlag
(aussen Gold - innen jede Seite p.u.r.e.s Gold):
Ilse Aichinger: Subtexte. Edition Korrespondenzen, Wien 2006. ISBN-10: 3-902113-46-4.

Passende, himmlische Textzugabe:
Die Dioskuren aus Gumpendorf.

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