Über die Identität. 
Samstag, Juni 2, 2007, 22:48 - BÜCHER
(…) Wer die Vielfalt und Vielgestalt der Welt rühmen will, muss sich hüten, sie um jeden Preis zu rühmen. Ich träume nicht von einer Welt, in der jeder seine eigene Sprache spricht, Religion erschafft und Kultur begründet. Es gibt einen Kult um die „Kultur“, der sich für Toleranz hält und bereit ist, aus Respekt vor der „Kultur“ als vermeintlich letztem, nicht mehr kritisierbarem Wert jedes Unrecht zu legitimieren, die Beschneidung von Frauen, grausame Rituale, den Zwang, sich unter religiöse Despotie zu ducken und in die Übermacht stupider Traditionen zu fügen. Die Sympathie für die Verlierer – eines Spiels, eines ökonomischen Prozesses, der geschichtlichen Entwicklung – ist ehrenwert, aber sie kann ins Bornierte kippen, und die Ansicht, dass jedwede Tradition, die sich bei einer bestimmten Ethnie oder Gruppe ausgebildet hat, eine eigene „Kultur“ darstelle, die schon deswegen zu respektieren sei, ist prekär. (…)

(…) Für die billige, nutz- und folgenlose Sympathie, die die verarmten Gesellschaften Lateinamerikas lange gerade bei den europäischen Linken hervorriefen, hat der mexikanische Schriftsteller Juan Villoro einmal das treffende Wort von der „Utopie der Rückständigkeit“ gefunden. Jene, die arm sind, sollen für uns und statt unser einen menschlichen Reichtum behaupten, den wir längst verloren, aufgegeben haben. (…)

Karl-Markus Gauss: Von nah, von fern. Ein Jahresbuch. Zsolnay Verlag Wien.

Kommentare

Kommentar hinzufügen
nocomments