"Wir brauchen keine ... 
Samstag, September 27, 2008, 18:54 - BÜCHER
... "Umwertung aller Werte", wie sie Nietzsche vorschwebte, und müssen auch keine neuen erfinden. Die Werte sind altbekannt, ebenso wie Recht und Gesetz. Schon vor mindestens 26 Jahrhunderten fand unter den Menschen aller grossen Kulturen, die es damals gab, die Auslese (wie es Darwin sagen würde), all jener grossen Werte statt, die ein Zusammenleben möglich machen. Karl Jaspers nennt diese Epoche, der wir so vieles verdanken, die „Achsenzeit“. Wer wollte päpstlicher sein als Heraklit oder Konfuzius, Buddha oder Lao Tse, Zarathustra oder Jesaja? Brauchen wir also bloss nachzubeten, was sie sagten? Allem Anschein nach reicht das nicht. Wir müssen es verstehen, fortsetzen, aktualisieren und weitergeben! Anders ist Fortschritt nicht zu haben. Alain in Frankreich und Hannah Arendt in den Vereinigten Staaten haben es uns gezeigt: Durch die Überlieferung der Vergangenheit ermöglicht man den Kindern, ihre eigene Zukunft zu erfinden; nur wer kulturell konservativ ist, kann politisch fortschrittlich sein. Das gilt auf dem Gebiet der Moral für die ältesten Werte (die der grossen Religionen und der Weisen der Antike: Gerechtigkeit, Mitgefühl, Liebe usw.) wie für die jüngsten (die der Aufklärung: Demokratie, Trennung von Kirche und Staat, Menschenrechte usw.). Es wäre falsch, mit der Vergangenheit zu brechen! Es geht, bis auf ein paar Ausnahmen, nicht um die Schaffung neuer Werte, sondern um ein neues oder erneuertes Bekenntnis zu den alten Werten, die wir weitergeben müssen. Das ist wie eine Schuld gegenüber der Vergangenheit, die wir nur an die Zukunft abtragen können – die einzige Art, den ererbten Werten wahrhaft treu zu bleiben, ist deren Vermittlung an unsere Kinder. Überlieferung und Bekenntnis sind unauflöslich miteinander verbunden: Das Bekenntnis ist nur eine Verlängerung, ein Wechsel auf das Kapital, das die Überlieferung eingebracht hat. Es sind dies die zwei Pole einer lebendigen Tradition, also auch jeder Zivilisation. Die Menschheit ist wie ein Strom, der nur eine einzige Möglichkeit hat, seine Quelle zu ehren, nämlich: weiterzufliessen.

[André Comte-Sponville]: Woran glaubt ein Atheist? [Diogenes]

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