Wir leben in einer grossartigen Zeit. 
Mittwoch, April 7, 2010, 13:23 - PRESSE
ZEITmagazin: Herr von Schirach, als Strafverteidiger haben Sie Einblick in viele Lebensschicksale. Entdecken Sie in ihnen irgendeinen Sinn?

Ferdinand von Schirach: Einen Sinn des Lebens? Nein. Es soll in unserer Galaxie hundert Milliarden solcher Sonnensysteme wie unseres geben und wiederum hundert Milliarden solcher Galaxien. Und das soll nur zehn Prozent des Universums ausmachen, dazwischen ist es leer und kalt. Wenn Sie sich das nur zwei Sekunden lang vorstellen, ist alles, was wir tun, völlig unbedeutend. Und doch müssen wir mit dieser Kälte und Leere leben. Uns rettet die Kultur, sie trennt uns einzig vom Chaos.

ZEITmagazin: Ein bisschen fröstelt es mich schon, wenn Sie so reden.

von Schirach: Ach, kommen Sie: Es gibt diesen wunderbaren Satz von Aristoteles, dass am Beginn aller Wissenschaft immer das Erstaunen steht, dass die Dinge sind, wie sie sind. Und die Dinge sind wirklich, wie sie sind. Sie können nichts daran ändern. Die richtige Haltung scheint mir deshalb ein verhaltenes Mittun zu sein.

ZEITmagazin: Haben Sie ein pessimistisches Menschenbild?

von Schirach: Nein. Pessimistisch oder optimistisch – diese Begriffe würden ja voraussetzen, dass man etwas erwartet. Ich arbeite jetzt seit 16 Jahren in der Strafjustiz, ich habe genügend Tote gesehen – ich erwarte nichts mehr. Ich bin zufrieden, wenn es irgendwie weitergeht. Wir leben ja in einer großartigen Zeit. Es gibt keinen Krieg in Europa, und wir können bei einem netten Italiener zu Mittag essen. Das ist schon mehr, als die meisten Generationen vor uns hatten. Es ist sehr viel.

Aus dem [ZEITmagazin] Nr. 13, 25.03.2010

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