Gedanken zur eigenen Vergänglichkeit. 
Freitag, Dezember 31, 2010, 20:20 - GELESENES
Das Angenehme am Alter ist, dass man zu wissen glaubt, wer man ist. Und man kapiert, dass die anderen genauso verrückt sind wie man selbst gelegentlich. Ich finde, zum kultivierten Leben gehört vor allem Selbsterkenntnis. Viele Menschen ahnen gar nicht, wie viel Kraft Verdrängen kostet und wie depressiv, abwehrend, bösartig und steril es einen machen kann.

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"Melancholie des Alters" klingt so hochtrabend. Man wird einsam, das ist es. Und man ist nicht mehr frei, sich ins Auto zu setzen und irgendwohin zu fahren. Alter ist Verzicht auf Bewegung, auf Reisen, auf Jugend und Schönheit. Ich bin schon acht Zentimeter geschrumpft. Das Alter reduziert einen bis zur Lebensmüdigkeit. Ein ungebetener Begleiter des Alters ist das grosse Vergessen. Wir sind doch, an was wir uns erinnern.

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Wie gross mein Bedürfnis nach einem Jenseits ist? Ich würde sagen: gleich null. Ich glaube nicht an ein Jenseits, aber es wäre schön, ich könnte es. Der Glauben macht die Welt schöner als das Wissen. Ich muss ohne den Trost und die Geborgenheit einer Religion sterben. Mein Verstand sagt mir: Statt ins Paradies zu kommen, kippst du in ein schwarzes Loch, das Nichts heisst. Mein Herz ist etwas optimistischer.

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Je älter ich werde, desto weniger verstehe ich, dass ich mich so wichtig gefühlt habe. Warum habe ich das Leben so ungeheuer ernst und schwer genommen? Warum habe ich nicht begriffen, dass das Leben ein Spiel ist, ein grosses Stück Theater? Jeder von uns könnte doch wissen, dass wir ein zufälliges Stück Natur sind, das irgendwann endet. Stattdessen nehmen wir es wichtig, wenn wir eine Falte bekommen, und versuchen sie mit allen Mitteln zu verstecken. Das eigentliche Rätsel ist, dass die Menschen so unglaublich lächerlich sind - inklusive man selber.

Ausschnitte aus einem Interview mit Margarete Mitscherlich zum Anlass der Buchpremiere von "Die Radikalität des Alters" (S. Fischer Verlag).

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