Mittwoch, März 23, 2005, 19:11 -
KINO & FILM & TV
(...) "Im Endeffekt ist alles Tragödie. Die Tragödie ergibt sich aus der Sinnlosigkeit des Lebens. Wir leben in einer endlichen und sinnlosen Situation. Jede neue Entdeckung von Wissenschaftern macht deutlicher, dass jegliche Existenz nur Zufall ist, ohne jedes Ziel, ohne jeden Sinn. Wir leben unser Leben, wir sterben, aber nichts und niemand wird überleben. Alles wird verschwinden. Am Ende wird es kein Licht, keine Luft geben, keine Existenz, keinen Shakespeare, keinen Beethoven. Nichts von dem, was wir für unsterblich halten. Überhaupt nichts, null.
Wir leben im schlimmsten Fall und wissen darob. Wüssten wir es nicht, wäre es wohl weniger schmerzhaft. Ich hatte mal diesen Satz in einem Film - entschuldigen Sie, dass ich mich selbst zitiere, es ist aus "Deconstructing Harry" -, ich sagte:
"Jedermann kennt dieselbe Wahrheit über das Leben, und unser Leben besteht darin, wie wir diese Wahrheit verzerren." Das ist wahr: Alle wissen um dasselbe, aber jede Person verzerrt anders. Der eine wird religiös und hofft, dass ihm das hilft. Ein anderer glaubt, es wäre wunderbar, berühmt zu sein. Ein anderer will das Leben sinnlich und mit allen Vergnügungen geniessen. Einer will politische Macht... aber am Ende führen alle Züge ins selbe Depot. Und dieses Depot ist kein sicherer Hafen, macht nicht glücklich, wenn man darüber nachdenkt.
Ich rede nicht nur von der persönlichen Existenz. Alles, was existiert, wird schliesslich verschwinden. Wir leben in einem sehr tragischen Szenario, und jeder entwickelt ständig Strategien, dass er nicht darüber nachdenken muss. Denker und Schriftsteller wie Freud, Nietzsche, O'Neill glaubten, dass zu viel Realität zu schmerzhaft zu ertragen sei. Darum sei es wichtig, dass wir uns weiterhin selbst hereinlegen mit Arbeit, Vergnügen, Liebesbeziehungen, Fernsehen - was immer wir tun können, um nicht an das schreckliche Dilemma zu denken, in dem wir stecken. Man macht sich selbst Probleme, man macht sich Schwierigkeiten - das hält einen beschäftigt: Man grübelt über den zweiten Akt eines Dramas oder sorgt sich, weil die Freundin mit einem andern schläft. Das sind alles sehr schmerzhafte Geschichten, aber sie sind nie und nimmer zu vergleichen mit dem realen Schrecken, in dem die Menschen die ganze Zeit leben." (...)
Ausschnitte aus einem Gespräch von Lilo Weber mit Woody Allen anlässlich der bevorstehenden Premiere von "Melinda and Melinda" - NZZ Nr. 67/21.März 2005.