Donnerstag, Februar 3, 2005, 16:36 - PRESSE
Leider ist kein Link greifbar zu Urs Bühlers "Zwischenruf" in der NZZ vom 01.02.2005.Finde ihn aber so treffend geschrieben, dass ich mir Mühe geben werde, ihn ganz einfach - abzuschreiben... ungekürzt und unverändert, obwohl ich einige Stellen liebend gerne sprachlich ein wenig zurechtgebogen hätte...
'Bei Julia Roberts und Jude Law passiert es in ihrem jüngsten Film namens "Closer" weinige Minuten nach dem Kennenlernen: Ein inniger Kuss zwischen Wildfremden - und schon wechseln die Dialoge in den deutschen Untertiteln von der "Sie"- zur "Du"-Form. So muss es sein, das wissen Kinogänger. Filmfiguren können zusammen den Himalaja erklimmen, in die Hölle hinabsteigen oder die ganze Welt vor dem Untergang retten, ohne Duzfreunde zu werden. Der erste Zungenkuss jedoch markiert unweigerlich das Ende der Höflichkeitsform. So wollen es jedenfalls die Verfasser deutscher Übersetzungen von amerikanischen Filmen, deren Originalsprache sich dieser Nuancierung bekanntlich verweigert.
Wie so oft zielt die Kunst auch hier an den Realitäten vorbei. Wer wartet denn schon den Austausch körperlicher Intimitäten ab, bis er das "Du" anbietet? Und kann von Anbieten überhaupt noch die Rede sein? In trendigen Zürcher Kleiderläden und Bars werde ich vom Personal heutzutage ungefragt und unbekümmert geduzt. Dabei könnte ich jeweils wetten, dass wir uns niemals auch nur auf die Wange geküsst haben. Nicht dass mich dieser lockere Umgang mit der Duz-Form bedrücken oder beleidigen würde; auch gehört er kaum zu den Elementen, die den Untergang des Abendlandes ankündigen. Aber etwas bedauerlich ist das Schwinden des Siezens manchmal schon. Eine gewisse Distanziertheit in den alltäglichen Umgangsformen ist nämlich insofern von Vorteil, als sie mehrere Stufen der Annäherung offen lässt. Und sei es auch nur in Form der Möglichkeit, beim Anstossen mit einem Glas Wein gemeinsam die Tür zum Du aufzustossen.
Das englische "You" mag die Illusion einer Gleichbehandlung aller Mitmenschen aufrechterhalten. Gleichzeitig beraubt es die Leute aber einiger biografischer Wegmarken. Wie schwellte es einem doch beispielsweise in der Pubertät einst die Brust, sobald einen die Umwelt vereinzelt mit "Sie" anzureden begann und somit in der Erwachsenenwelt willkommen zu heissen schien! Und wie sehr mochte es einen zehn Jahre später in eine Identitätskrise zu stürzen, dass man sich dem unbeschwerten Duz-Alter endgültig entwachsen glaubte. Mittlerweile habe ich auch diese Phase überwunden, und im Zweifelsfall votiere ich für die "Sie"-Form. Zum Besipiel dann, wenn SF DRS mir in der keineswegs nur an Kinder gerichteten Casting-Show "Music Star" folgende Anrede serviert: "Ruf jetzt an und wähle deinen Favoriten!" Diese Formulierung ist erstens eine Anbiederung im Stile von hiesigen Lokalradios, die mit der "Du"-Form penetrant Vertrautheit zu ihrer Zuhörerschaft simulieren. Zweitens erinnert sie verflixt stark an Werbespots für Telefonsex-Nummern. Da soll noch jemand behaupten, Duzen sei ein Zeichen von Nähe.'
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