Zum ersten Mal... 
Dienstag, April 25, 2006, 23:41 - BÜCHER
... habe ich in Palermo von Menschen erfahren, die für die zukünftige Welt nicht untypisch sein werden; es waren Flüchtlinge aus Afrika, in grosser Zahl, aber ohne jede Verankerung an ihrem Zufluchtsort. Sie besuchten keine Schulen, zahlten in keine Krankenkassa ein, ihre Kinder wuchsen im selben Nirgendwo wie die Eltern auf. Sie waren alle bloss da, vorhanden, unerfassbare Aussergesetzliche, deren erster und oft letzter Gesprächspartner in der neuen Heimat die Polizei war.

Franz Schuh in der editorischen Notiz zu "Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche."
Mythen des Alltags. 
Sonntag, April 23, 2006, 18:05 - BÜCHER
Ich denke,
dass das Insekt,
das mich heute morgen anflog,
weder in der Lage war,
mich zu beissen noch
zu stechen.

Ich kaufe
in der Weinhandlung
unter den Blicken eines stadtbekannten
Kabarettisten, der jetzt denkt,
ich hätte hier einen Auftritt,
eine Flasche Mouton de Rothschild.
Der Kabarettist lacht,
und der weisse Wein in seinem Glas
blitzt vor Kühle im künstlichen Licht.

Ich bin Rotweintrinker.

Dann gehe ich die Piaristengasse hinunter
an zirka zehn bis fünfzehn Menschen vorbei,
und plötzlich glaube ich,
wenn ich eines Tages schon nicht mehr existieren werde,
dass es doch ganz schön war (gewesen sein wird),
einmal dazugehört zu haben

(was mich aber sehr wundert,
denn gestern noch wurde ich geradezu erlöst
durch das Glücksgefühl,
dass das alles endlich einmal aus sein wird).

Text aus Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche von Franz Schuh.
Da gerade jemand... 
Samstag, April 15, 2006, 09:27 - BÜCHER
... kürzlich in meinem Weblog nach Adrian Tomine gesucht hat: Es gibt eine kleine hübsche Postkartensammlung von ihm... share these 30 different postcards or keep them all to yourself...
I'll keep them!

OPTIC NERVE - 30 postcards by Adrian Tomine.
Chronicle Books, San Francisco, 2005. ISBN 0-8118-4489-7
Hotel Angst - hält auch andere auf Trab. 
Donnerstag, April 13, 2006, 17:31 - BÜCHER
Das Hotel Angst ist ein riesiger, alter Kasten, von Adolf Angst Ende des 19. Jahrhunderts in Bordighera an der italienischen Riviera erbaut. Der englische Adel feierte dort noch einmal sich selber. Das Hotel kündete von Pracht und Prunk einer untergehenden Epoche.

Düffel lässt einen Sohn nach dem Tod des Vaters auf die Suche gehen: nach eigenen Kindheits-Ferienerlebnissen in Bordighera, die er jetzt erst, nach dem Begräbnis, zu verstehen beginnt. Des Vaters Architekten-Traum vom Wiederaufbau scheiterte damals an seiner Kompromisslosigkeit. Die Wiederbelebung des Hotels als Seniorenresidenz – für ihn ein unvorstellbarer, unakzeptabler Abstieg in fade Durchschnittlichkeit. Doch warum schlug der superreiche Fechner, ein Lebemann und Vaters Freund, kein Geld aus dieser Idee?

Beim Recherchieren stößt der Sohn auf Romanskizzen des Vaters – akribisch arbeitete er nach dem Scheitern der Architektenpläne an seiner Fiktion, wie um das Hotel im Traum fortleben zu lassen.

Eine klar erzählte Geschichte, deren Subtext immer wieder das Zusammenwirken von Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit umkreist, und wie daraus der geheimnisvolle Stoff namens Leben entsteht.

„Er wollte, dass etwas bleibt“, sagt Fechner an einer Stelle, „doch auf der anderen Seite war er ein Perfektionist. Und das Vollkommenste ist immer das Nichts, die reine, unbefleckte Vorstellung.“ So stellt sich, auf eine sehr romantische Weise, auch die Frage nach dem Lebenserfolg ganz neu, die vordergründig so klar zugunsten Fechners ausschlägt. So wird „Hotel Angst“ unter der Hand zu einer wehmütigen Verteidigung der Fantasie. (Dierk Wolters, rhein-main.net)
John von Düffel: Hotel Angst.
DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln, 2006. ISBN-10: 3-8321-7957-7
Largo dei Librari. 
Montag, April 10, 2006, 12:01 - BÜCHER
Dann und wann platzt der übliche ausländische Freund in Rom herein, um uns einen Besuch abzustatten: »He ciao, ich bin hier, was unternehmen wir heute abend, was zeigst du mir Schönes?«
Sagen wir es freiheraus:
Das trifft uns wie ein Schlag ins Genick. Von der Stadt hat dieser Freund beinahe alles gesehen, das Kolosseum, Sankt Peter, die Fontana di Trevi und die Piazza Navona, aber auch den Aventin und San Clemente, auch die Katakomben und das Foro Italico und sogar das Coppedè-Viertel, das wir ihm beim letztenmal gezeigt haben. Und doch ist er unersättlich, er giert danach, zumindest eine neue Erinnerung mitzunehmen, etwas Besonderes, ein kleines Detail, ein Eckchen, eine unvergeßliche Ansichtskarte: »Also, dear friend, was bietest du mir heute?« Wir fühlen uns verpflichtet, ihn nicht zu enttäuschen, finden es aber auch mühsam, schon wieder ein prächtiges Kaninchen aus dem Zylinder zu zaubern. Wir sagen alle Verabredungen ab und, verdammter Mist, beginnen das Album der Erinnerung auf der Suche nach einem besonderen Bild zu durchblättern, nach etwas Wundersamem, das nicht allzuviel Zeit kostet. Wir würden uns gerne mit einem Aperitif begnügen, einem kleinen Plausch und einem Tellerchen Oliven an einem magischen Ort, und dann sehen wir uns in zehn Jahren wieder. Museen – nein, Ruinen – auch nicht. Wohin also, wohin?

Der Freund ruft wieder an, um die Verabredung fest auszumachen. »Also treffen wir uns…, treffen wir uns…?« So, ich hab’s: Largo dei Librari, auf der Via dei Giubbonari, das ist der richtige Ort für uns. Es ist ein perfekter Ausschnitt, sieht aus wie die Bühne eines Theaters, die kleine Kirche der heiligen Barbara ist wie eine Gemme zwischen die Häuser des Hintergrunds eingeschnitten. Er ist Rom en miniature, das Barock der Politoys, ein Konzentrat aus Ruhe und Konfusion, aus Geometrie und vitaler Unordnung. Hoch oben, neben der Minifassade der Kirche und dem Himmelsblau, gibt es ein rührendes Fensterchen, das den Schriftstellern der Boheme gefallen hätte, es sieht aus wie das »Fenster gleich neben dem blauen Himmel« in dem alten Dachboden, den Gino Paoli besungen hat.

Aber Rom besteht nicht nur aus Kunst und Inspiration. Auf dem kleinen Platz gibt es auch ein für seine filetti di baccalà berühmtes kleines Restaurant, die, begleitet von einem Glas frischem Weißwein, die Kehle erfrischen. Um sieben Uhr abends paßt alles perfekt zusammen, die kleine Kirche, der Stockfisch, der Wein, die vertraulichen Gespräche. Der Freund genießt diesen bezaubernden Augenblick, schwört bei seinen Kindern, daß er sich noch nie so wohl gefühlt hat, und schwört, im nächsten Monat nach Rom zurückzukehren.

Marco Lodoli: Spaziergänge in Rom. Hanser, München/Wien. ISBN-10: 3-446-20742-2

Umschlagbild - im Gegensatz zu "Inseln in Rom" sonst leider ohne Photos.
Der traurige Onkel. 
Montag, April 3, 2006, 21:20 - BÜCHER
Wundre dich nicht, wenn ich weine,
Weil ein Mensch doch dann und wann
Trotz des besten Willens seine
Sorgen nicht verbergen kann.

Nimm aus meiner Schreibtischlade
Den Revolver mir nicht fort,
Auch das Gift nicht. Und verrate
Niemandem davon ein Wort.

Und du selber sollst nicht weinen,
Wenn du über mich was liest,
Oder wenn du plötzlich meinen
Hut im Wasser treiben siehst.

Frage nicht, warum ich heute
Etwa etwas seltsam bin.
Grüße bitte meine Leute. –
Schau das Laub! – Es welkt dahin.

Bleibe glücklich und genieße
Du das Leben im Erblühn.
Wenn du Zeit hast, so begieße
Manchmal dieses Immergrün.

Was für Absichten ich hege?
Frage nicht. – Nimm diesen Kuß,
Und dann geh ich jene Wege,
Die ich einmal gehen muß.

Noch ein Küßchen auf das kleine
Näschen. Noch eins auf den Mund.
Ach was hast du süße Beine. –
Zeig mal! – Und wie bist du rund!

Ach, mir darfst du das schon zeigen,
Denn du bist doch schon so gut
Wie erwachsen und kannst schweigen,
Wenn dein Onkel etwas tut!?!
............................................................
Aus: Joachim Ringelnatz: Sämtliche Gedichte. Zürich: Diogenes 1997 (856 Seiten). ISBN 3-257-06145-5
Die grosse Frage. 
Montag, April 3, 2006, 20:47 - BÜCHER

Sagt der Tod: "Du bist auf der Welt, um das Leben zu lieben."

Sagt der Bäcker: "Du bist da, um früh aufzustehen."

Sagt der Hund: "Ich glaube, man ist zum Bellen auf der Welt - und zeitweise, um den Mond anzuheulen."

Sagt die Drei: "Du bist auf der Welt, damit du eines Tages bis drei zählen kannst."

Sagt der Boxer: "Du bist da, um zu kämpfen."

Sagt der Matrose: "Um die Meere zu befahren, bist du auf der Welt."

Sagt die Ente: "Ich habe überhaupt keine Ahnung."


Wolf Erlbruch: Die grosse Frage. Peter Hammer Verlag, Wuppertal. ISBN 3-87294-948-9
Über Stock und Stein. 
Donnerstag, März 30, 2006, 21:35 - BÜCHER
Zwei alte Menschen gehen über die Strasse, er geht sehr schwer, das heisst, er rudert mit den Armen, als er versucht, sich an der Luft festzuhalten, und dabei zieht er einmal den rechten, einmal den linken Fuss nach. So ist sie ihm voraus. Ihr Kopf steckt unter einer dicken Wollmütze, die ihr Gesicht rund wie einen Vollmond erscheinen lässt. Aber dieser Mond ist nicht gnädig. Die Lippen der Frau haben etwas Zusammengebissenes – also einen Zug, der vom vielen Zähnezusammenbeissen geblieben ist. Der Mann wirkt immer mehr wie ein Automat, an dem etwas nicht stimmt. Die Frau versucht, eine Unmöglichkeit zu realisieren, nämlich einerseits mit ihrem Mann zu gehen und andererseits den Anschein zu wahren, dass sie mit diesem Mann hinter sich nichts zu tun hat. Plötzlich ruft er ihr nach: „Ich hätte doch den Stock nehmen sollen!“ Darauf folgt ein Schweigen, keine Reaktion von ihr, alles geht seinen Gang. So muss er ihr noch einmal nachrufen: „Aber du hast gesagt, es ginge schon.“ Jetzt hält es sie nicht mehr, sie dreht sich um und zischt durch die Zähne: „Daran bin also auch ich schuld.“ Er antwortet ihr mit einem Blick: keine Hoffnung, auch keine aufs Auseinandergehen.

Franz Schuh: Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche. Zsolnay, Wien. ISBN-10: 3-552-05370-0
Sommerzeit. 
Samstag, März 25, 2006, 16:04 - BÜCHER
Die Tage
werden wieder
länger

ohne dich.


Franz Hohler: Vom richtigen Gebrauch der Zeit. Sammlung Luchterhand, 2006.
ISBN 3-630-62083-3
The current mouser. 
Samstag, März 18, 2006, 22:14 - BÜCHER
Über meine liebste Buchhandlung in Bern habe ich schon geschrieben.
Über meine liebste Buchhandlung anderswo noch nicht.
"Je souhaite dans ma maison:
Une femme ayant sa raison,
Un chat passant parmi les livres,
Des amis en toute saison
Sans lesquels je ne peux pas vivre."
(Apollinaire)

<<nav_first <Zurück | 27 | 28 | 29 | 30 | 31 | 32 | 33 | 34 | 35 | 36 | Weiter> nav_last>>