Donnerstag, Februar 14, 2008, 21:11
Beitrag von sb_admin
Stellvertretend lasse ich diesmal Herrn [Roland Reichenbach] berichten, welcher seit Anfang 2008 den Lehrstuhl für Pädagogik an der Uni Basel inne hat (die Berner, welche auf diesem Gebiet wirklich einen sehr dringlichen Nachholbedarf hätten, dies jedoch weiterhin nicht realisieren und sich ihn schon nur deswegen unbedingt hätten schnappen sollen, die haben ihr PULVER wieder einmal kümmerlich verschossen).Beitrag von sb_admin
Hier spricht der Pragmatiker (Auszüge aus Referat & Diskussion):
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Pädagogikdiskurse, die so herzlich wenig bedeuten; diese ganze Begriffsklauberei; diese fürchterlichen Sätze von renommierten Pädagogen wie z.B. „Lernprozesse sind dann besonders fruchtbar, wenn der Lerner aktiv an seinem eigenen Lernen beteiligt ist.“ Tönt ja sehr eindrucksvoll, sehr kompetent, nicht wahr? Auch wenn man's nicht so recht versteht... Aber ersetzen Sie mal „Lern-“ durch „Trink-“, dann erhalten Sie „Trinkprozesse sind dann besonders erfolgreich, wenn der Trinker aktiv an seinem eigenen Trinken beteiligt ist.“ Furchtbar. Einfach nur furchtbar.
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Wir wissen nicht einmal mehr, was wir in der Schule verlangen, was wir als Standard verlangen sollen, unabhängig davon, ob das Kind nun motiviert ist oder nicht. Denn praktisch überall auf der Welt ist die Motivation des Kindes, des Schülers t-o-t-a-l egal. Sie ist einfach nicht wichtig. Und was hingegen lernen wir im deutschen Sprachraum? Wir lernen, jaaaahh nicht dazu zu stehen, dass die Schule eine Zwangsanstalt ist; wir lernen, dass die Schule so eine Art motivationspsychologische Stimulanzfabrik sei, wo man hinkommt und wo sich alle Lehrer immerzu als allererstes fragen: Wie motivieren wir unsere Schüler? Fürchterlich. Nur wir hier reden dauernd von der Motivation, stellen sie in den Vordergrund. Nirgends sonst macht man das. Und es ist tatsächlich so: Nicht die Motivation ist wichtig, sondern die Sache. Etwas zeigen, das wichtig ist; das muss man in den Mittelpunkt stellen. - Kennen Sie Hans A. Traber? Ich nenne das den Hans A. Traber-Effekt: Jemand erzählt und zeigt etwas, wofür sich normalerweise niemand interessiert, mit dem man keine Maus hinter dem Ofen hervorlocken würde - aber: die halbe Nation lauscht gebannt und mit offenem Mund, was der da wieder von sich gibt: sein Wissen nämlich.
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Zum Begriff der Eigenständigkeit – eigenständiges Lernen. Offene Lernformen; Werkstatt-, Wochenplan-Unterricht… Lange Jahre jetzt steht die Schule unter diesem reformpädagogischen Geist: alles was offen ist und dem Kind quasi Eigenständigkeit, Eigenverantwortlichkeit zumutet, ist gut. Das hat einen guten Namen! Das hat einen guten Ruf! Es tönt immer gut, wenn man sagt: eigenständig! Eigenständig ist ein gutes Wort, genau so wie: aktiv!
Ich bin gar nicht gegen die Eigenständigkeit – aber man muss die Ambivalenz dieses Begriffes sehen. Ist wirklich das Kind, der Schüler verantwortlich fürs Lernen?! Ich bin nicht sicher… Ist es das Kind?! Und was bedeutet das? Oder ist es die Lehrperson, die Institution? Ich würde – primär! – sagen, es ist die Lehrperson, die Institution, die die Verantwortung fürs Lernen übernehmen muss. Primär! Alles andere ist nämlich ein Abschieben, so im Sinne von: Wir sind zwar ungleich, aber wir tun so, als ob wir gleich wären – du kannst das selber! So zieht man sich politisch korrekt aus der Verantwortung. Es gibt empirische Daten, die zeigen eindeutig, wie problematisch die offenen Formen sind – die Untersuchungen, die es zum Wochenplanunterricht gibt, von dem man ja sagt, dass der die Eigenständigkeit fördere – ist ja alles gut, alles was da fördert, die Eigenständigkeit fördert, die Sozialkompetenz fördert, etc – das Problem ist nur, dass man in vielen Bereichen feststellen kann, dass die Guten gleich gut bleiben, aber: die Mittleren und die Schwächeren werden schwächer. Und deswegen ist das nicht einfach eine Wahl, die mit politischer Korrektheit zu tun hat, sondern es geht tatsächlich – und nun moralisiere ich ein wenig – um die ethische Verantwortung der Lehrperson. Und wenn man feststellen, ja nachweisen kann, dass im Wochenplan- und Werkstattunterricht sowie bei Gruppenarbeiten in gewissen Bereichen die Schwächeren noch schwächer werden: Das ist ja nun doch wirklich sehr problematisch. Ich bin zum Teil entsetzt, was ich da so gesehen habe, was sich Werkstattunterricht nennt: WERKSTATT! Tönt auch gut, nicht?! Werkstatt! Da denkt man an Hammer, an Skulptur und so – und dann ist da einfach eine Kartonkiste mit ein paar Fragen drin, die schon vor 15 Jahren gebraucht worden sind, mit so einem Zettel dabei – fürchterlich!
Werkstatt; Super-Werkstatt! Völlig aufgemotztes Vokabular.
Delegation von Unterricht ist das!
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Die Schule muss das Leistungsprinzip vertreten; Lehrer, die das Leistungsprinzip nicht vertreten, sind inhuman. Die Zukunft wird gestaltet durch die persönliche Leistung. Das ist das Credo, und anders geht es gar nicht, da kann man lange drüber diskutieren.
Gleichzeitig wissen wir, dass es die Chancengerechtigkeit, die Chancengleichheit nicht gibt, und wir wissen auch, dass Leistung aus gesellschaftlicher Perspektive, die Leistungsbeurteilung im Sinne der Selektion, bedeutet: Die Schaffung von ungleichen Zukunftschancen. Das ist soziologisch betrachtet die Selektion: Am Schluss dürfen nicht alle die gleichen Berechtigungen haben. Für eine Gesellschaft ist nur das funktional. Selbstverständlich muss der Pädagoge anders denken, aber die gesellschaftliche Funktion der Schule ist natürlich diese. Schule gleich: Schaffung von Ungleichheit; das ist eine ganz wichtige Funktion. Man lernt, soziale Ungleichheit zu ertragen; man lernt sich situieren.
Bildungssysteme sind nun mal Kampfarenen.
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Die Kinder nicht nur dort abholen, wo sie sind (das ist zwar richtig) – wir müssen sie auch dort erwarten, wo sie hinkommen sollen. Das ist die pädagogische Zumutung; eine positive Form des Pygmalion-Effekts.
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