Freitag, Januar 7, 2005, 18:18 - DIALOGE
Frau Benzinger: Also, Sie wollen Schauspieler werden. Treten Sie näher zu mir heran. Genieren Sie sich nicht. Fallen Sie nicht um vor Schreck, wenn ich Sie nun etwas näher ins Auge fasse. Wenn mein Atem Sie streift, ist das noch keine Ursache, rot über den ganzen Kopf zu werden. Haben Sie noch nie mit einiger Gelassenheit das Bein einer Frau gesehen? Die Spitzen meines Unterrocks, die Sie sehen, sind nur das gelinde und gewöhnliche Vorspiel dessen, was einem Bühnenkünstler täglich und stündlich begegnet, und worüber er hinwegsehen muss. Wir Künstler sind ein freies, zwangloses und, wie wir uns gern einbilden, ehrliches Volk. Sie dagegen sind ein Jüngling aus dem dicksten, gefüttertsten bürgerlichen Milieu, und Sie wollen zur Bühne? Na, tragen Sie mal etwas vor.Der junge, schüchterne Mann hat etwas vorgetragen.
Frau Benzinger: Das ist nichts. Danken Sie Gott, dass Sie einem Menschen in die Hände gefallen sind, der es so gut mit Ihnen meint, dass er offen zu Ihnen spricht. Unwahrheiten sind in solchen Fällen Morde. Sie sind schüchtern. Sie sind erschrocken, wie Sie sahen, dass ich das eine meiner natürlichen Beine über das andere gelegt habe; aber Sie dürften meinetwegen noch hundertmal schüchterner und schreckfüssiger sein, das hätte nichts zu sagen, denn das liegt nur in Ihrer grossen Jugend und tiefen Unerfahrenheit. Aber Sie besitzen auch nicht die leiseste Spur eines schauspielerischen Talents. Alles ist verborgen, verhüllt, vertieft, trocken, holzig an Ihnen. Sie mögen der glühendste Mensch innerlich sein, zerwühlt meinetwegen von herzlichen Leidenschaften, doch es kommt nichts an Ihnen zur Erscheinung, nichts zum Ausdruck. Sie sprechen eine ganz ordentliche Sprache, dass man fühlen muss, wie richtig Sie urteilen, wie anständig Sie über Sachen nachdenken, das aber, mein Knabe, ist das Aller-Allerwenigste von dem, was an Erfordernissen für einen angehenden Künstler in Betracht kommt. Ich bin eine ältere Frau und erprobte Schauspielerin und muss deshalb wohl wissen, was sich Ihnen gegenüber für eine Sprache ziemt. Mein Knabe, schütten Sie den allzu feurigen Wein Ihrer Träume von Bühnenlaufbahn und dergleichen rasch aus der Schale Ihres jungen Kopfes und fahren Sie fort, den Beruf, den Sie erlernt haben, auszuüben. Was würden Ihre Eltern sagen, wenn ich Sie unglücklich machen wollte? Das Geld, das Sie mir für Ihre Stunden ausbezahlten, würde in meinen Händen widerwärtig brennen, und ich würde das Gesicht Ihrer Frau Mutter sehen, dessen kummervoller Ausdruck mich für den Frevel, Ihnen die Wahrheit vorenthalten zu haben, grässlich strafen müsste. Nein, ich tue das nicht. Aber bleiben Sie noch einen Augenblick. Nehmen Sie hier dicht neben mir Platz. Sie sind zu gut und zu schlecht für den Schauspielerberuf, Sie würden immer nur schauspielern, nicht spielen; Unmensch, Bär, Windbeutel, ungeziemende lächerliche Fratze, nicht Mensch auf der Bühne sein. Die heilige, inbrunstvolle Flamme fehlt Ihnen, das Auge, das Lippenpaar, die drohende, bewegliche Wange. Bewegung fehlt Ihnen. Manier, sehen Sie, das haben Sie, aber das bedeutet nichts, das ist menschlich. Sie haben nichts Künstlerisches. Ich bin davon überzeugt (geben Sie mir die Hand), dass Sie innere Gaben besitzen, die Sie, wenn Sie heranreifen, zum guten, brauchbaren Mann stempeln werden. Ich glaube, dass Sie ein schöner Mensch werden; auf der Bühne, im goldenen Licht der Rampe, wären Sie hässlich, glauben Sie es mir. Sie müssen mir das glauben, kindlich, denn verstehen können Sie es noch nicht, weil Sie zu jung und zu unberührt von schrecklichen Erfahrungen sind. Drücken Sie einen Kuss auf meine Hand.
Der junge Mensch küsst der Schauspielerin beide Hände.
Frau Benzinger: Sie kommen viel ins Theater, nicht wahr. Ja, das ist so gefährlich für junge Köpfe. Ins Theater sollten nur reife Menschen kommen, das hätte das Gute, dass es auch einen veredelnden, verschärfenden Schein und Einfluss auf die Bühne und deren Kunstleistungen würfe. Ich bin so froh, lieber junger Mann, Sie haben warnen und abschrecken zu dürfen. Ein anderer würde Sie aufgenommen haben, würde vielleicht noch seinen Spass daran gehabt haben, Ihnen Gift in Ihr ganzes, Ihnen selber noch unbekanntes Leben zu streuen. Gehen Sie jetzt. Leben Sie wohl. Nein, nein, besuchen Sie mich nie mehr. Lassen Sie die ganze Theaterei stramm beiseite, baden Sie Ihre Empfindungen in natürlicheren Quellen, werfen Sie sich in gute, männliche Pflichten, und wenn Sie dreissig Jahre alt geworden sind, können Sie zu mir kommen und mir erzählen, was Sie errungen, erlitten und erlebt haben. Ich freue mich darauf, Sie so lange aus dem Gesicht zu verlieren; das verspricht mir die Freude, Sie als festen Menschen wiederzusehen. Hier. Behalten Sie das. Es ist mein Bild. Vergessen Sie nie, was ich Ihnen gesagt habe.
Robert Walser.
Aus: Jochen Greven, "Karl und Robert Walser in Stuttgart." Spuren 34, Oktober 1996; copyright Deutsche Schillergesellschaft Marbach am Neckar.
Eine Veröffentlichung der Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten in Baden-Württemberg.
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