Hotel Angst. 
Samstag, Oktober 15, 2005, 16:24 - SPURENSUCHE
Unser Mann – nennen wir ihn Frederick Fitzroy Hamilton – kam 1904 in Bordighera an, verfolgte den eleganten Flug einer Silbermöwe und bezog eine Suite im komfortvollen Grandhotel Angst, wo es stets Warmwasser gab, einen Kutschenbahnhof und eine Hotelbibliothek.
Man lebte in jenen Tagen in Bordighera inmitten herrlich wilder Terrassen mit 50000 Olivenbäumen, genoss den Duft des nachtaktiven Jasmins, der afrikanischen Tamarisken und der die Luft parfümierenden Orchideen, und am Ende des Dorfs war ein kleiner Fischerhafen, zu dem ein schmaler Weg aus der Altstadt führte.

Hamilton war aus London angereist. Wie so viele hatte auch er Il Dottor Antonio gelesen, jenen Roman des Chevaliers Giovanni Ruffini, der ihn und seine Landsleute sinnlich derart erregte, dass sie sehnsuchtsvoll, das Buch im Gepäck, in Richtung Süden aufbrachen, einem Stück reiseliterarischer Romantik auf der Spur, das sich wie folgt zusammenfassen lässt: Im herrlich hellen Frühling des Jahres 1840 kommt eine von vier Pferden gezogene Kutsche die Grande Corniche entlang, in der Kabine zwei englische Touristen, Sir John Davenne und seine Tochter Lucy. Doch, ach, die Kutsche bricht in Bordighera, Miss Lucy ist verletzt, und zur Hilfe kommt: der schöne Dottore.
1857 in London publiziert, wurde das moderne Märchen schnell zum Bestseller und die Blumenriviera zum Symbol des botanischen Elysiums, wo die Dattelpalmen nicht der Früchte, sondern der Schönheit ihrer Blätter wegen angebaut wurden. Zu Tausenden machten die fernwehgeschmerzten Briten fortan auf der neu eröffneten Eisenbahnlinie dort Halt, wo die Natur das Bel Paese bis heute am meisten verwöhnt: in Bordighera, im Angesicht des ligurischen Apennins und der schneebedeckten Kappen der französischen Seealpen. Dort verbrachten die aus der nassen Kälte des Nordens stammenden Insulaner lange, schöne, milde Wintermonate.

Oben, im Hang, an der Via Romana, träumen wir hundert Jahre später, muss Fitzroy Hamilton einst gewohnt haben, verliebt in den zarten Leichtsinn des Südens, in die Quirligkeit junger Eidechsen und das Karminrot der Gladiolen. Wir sehen hinauf, wo Bordigheras Grandhotels noch immer posieren, und je weiter hangaufwärts wir blicken, desto fresken- und stuckfassadenreicher inszenieren sich die von herrschaftlichen Parks umgebenen Jugendstilvillen aus der Glanzzeit des Ortes, Häuser einer großen Vergangenheit, in denen heute meist kleine Appartements untergebracht sind. Die Villa Sainte Odile, von Zitronenbäumen gesäumt; die Villa San Silvestro, mit gelb-weiß gestreiften Markisen. Die grandios verfallende Villa Angst mit ihrem arg verletzten Stolz, den verrosteten Eisengittern und nistenden Amselfamilien, dem Plastikmüll und den ungeschnittenen Palmen aber steht leer und einsam, vernarbt die Fassade, verwahrlost die Seele. Die Belle Epoque prächtelt dahin in der späten Moderne. Aristokratische Haltung, will es scheinen, stilistische Noblesse: tempi passati. Und am Eisengitter der Villa Angst kuscht ängstlich eine den Niedergang beweinende Katze, bevor der Straßenkehrer sie verscheucht.

Der Lungomare Argentina, die Seepromenade, gehört den Bladern, Skatern, Gauklern und Joggern. Der Strand ist liegestuhlverwaltet, alles ist sauber und ausgesprochen ordentlich. Es knattern die Piaggios, und tief schnaufen die vorbeifahrenden Züge, und in den Hollywoodschaukeln wippen gebräunte Signori in Trainingsanzügen. Auf dem Balkon des Piccolo-Lido-Hotels sitzend, den Blick aufs klare Wasser mit den himmelwärts drängenden Motoryachten, sehen wir die gelben und blau-weiß gestreiften Sonnenschirmmützen, die wie glückliche Pilze zwischen heißen Steinchen stecken, und wir hören die wendigen, fontänensprühenden Jet-Ski-Renner und das anbrandende, in den schmatzenden Grobkiesel krabbelnde Meer. Dann schließen wir die Augen und stellen uns aufs Neue Frederick Fitzroy Hamilton vor, wie er, als einer von 3000 Untertanen der Queen in Bordighera, über das dunkle, mit Intarsienmosaiken versehene Fischgrätenparkett seines Grandhotels stolziert, sich in die roten Plüschpolster der dreiteiligen Couch setzt, vor Gardinen mit buschigen roten, grünen und weißen Troddeln. Und wie er dann, vorbei am gelben Ginster, den roten Geranien, den Pfirsich- und Eukalyptusbäumen, hinabgeht in den Vorgarten mit den Heckenrosen, um auf der Viale Regina Elena, dem heutigen Corso Italia, zu spazieren, eine Tasse Tee zu trinken und am späten Nachmittag, gewiss im neckischsten Badeanzug, genau hier, neben unserem Hotel, am Capo Sant’Ampelio, ins Mittelmeer zu steigen.

1904 ist Bordighera eine Art Paradies der Engländer. Alles ist englisch, alles auf Engländer ausgerichtet, und alles kommt von der Insel, sogar die Spaghetti, die, wie sich ein damaliger Beobachter mokiert, »kalt serviert« werden. Es gibt englische Ärzte, englische Makler, Schafwollprodukte aus Yorkshire, es entstehen die ersten Lawn-Tennis-Clubs. Alles gedeiht zum Besten, und das Dorf ist auf dem Weg, zu einer neuen Perle des frühen internationalen Tourismus zu werden. Dann aber, warum auch immer, schränkt die italienische Regierung die Glücksspielkonzessionen des Landes ein und limitiert den erlaubten Einsatz auch im sieben Kilometer entfernten Casino von San Remo, was eine Einladung zur Auswanderung war, die ein paar zu jener Zeit nicht sehr bedeutende Orte an der benachbarten Côte d’Azur gern annahmen: Nizza und Monte Carlo hießen sie, und hier durfte allzeit so viel Geld verloren werden wie möglich. Es kam das britische Pfund an die Côte, Libertinage und Champagnerlust, und mit Grace Kelly kam Hollywood, mit Hollywood der Jet-Set, und Bordighera fiel, ohne müde zu sein, in einen lähmenden Schlaf.

Heute ist die Kleinstadt gänzlich unenglisch. Bordigheras Seele ist ligurisch. 11000 Menschen leben ohne Aufwand. Die Fischerdorfromantik hat den Fortschritt überstanden, nachts, unterm halben Mond, trawlen küstennah die Fischkutter, deren Gambas, Octopuskinder, Miesmuscheln und Seewölfe die Mamas in den Ristoranti der Altstadt am nächsten Tag auftischen werden. Aus den Bars am Lungomare Argentinia schmalzt der Italopop von Tiziano Ferro, »non me lo so spiegare«. Kein Hupen, vielmehr Gelassenheit.
Der Lungomare ist eine inneritalienische und keine globalisierte Promenade, mit Café-del-Mar-Chill-out und den Ingredienzen des kosmopolitischen Touristen-Lifestyles. Das Flaniermeilchen ist, wie Bordighera selbst, unspektakulär, zur Ruhe zwingend, gefällig. Leider hat man die Promenade unschön asphaltiert, und manchmal haftet ihr etwas Kurorthaftes an, eine merkwürdige Abwesenheit von Glanz und Jugend, morbider Muff in sozialistisch anmutender Betonarchitektur aus den frühen und späten fünfziger und sechziger Jahren, als das Städtchen gewaltsam wieder zur Geltung kommen wollte und es nicht mehr schaffte – aus der Riviera-Bohème war die Côte-d’Azur-Mondäne geworden.
Der einstige »Winterort der Zukunft« hat gegen den Zeitgeist verloren, der sich nizzanischen Chic wählte statt britisch-ligurischer eleganzia. Dem Glamourversprechen Mentons oder Saint-Tropez’ westlich und der Dekadenz Portofinos östlich hat Bordighera nichts weiter entgegenzusetzen als den Charme des Uncharmanten. Es will gar nicht charmant sein. Es ist es selbst. Vor dem ruinierten Cinema Teatro Zeni, dort, wo wir einen Mann namens Fitzroy Hamilton in unseren Träumereien flanieren lassen, sieht und hört man, während sich über Monaco die Sonne senkt, die schnatternde Jeunesse dorée des ligurischen Kleinbürgertums. Man folgt dem eleganten Flug der Silbermöwen, riecht den Jasmin und den Duft der Macchia und gestattet sich, zum letzten Sprühen der Strandduschen, ein bisschen Betörung. Es ist die Symphonie eines Sommers, wie er wahrhafter nicht sein könnte.

Text: Christian Schüle, "Ein Hauch von Jasmin", DIE ZEIT Nr. 30/15.07.2004.
Paradiesische Kulisse. 
Samstag, Oktober 15, 2005, 15:53 - SPURENSUCHE








Hotel Angst, Bordighera. Oktober 2005.
"Was machen Sie hier?" 
Donnerstag, Oktober 13, 2005, 23:20 - DIALOGE
"Ich photographiere."
"Und warum photographieren Sie gerade hier, bei uns, auf diesem Friedhof?"

"Gute Frage - was soll ich denn jetzt nur genau darauf antworten..."
"Sind Sie von hier?"
"Nein, ich komme aus der Schweiz und bin eben hier vorbeigefahren..."
"Aus der Schweiz - ach so... Wissen Sie, ich habe nämlich Bekannte in der Schweiz, und die sagten mir, dass die Friedhöfe dort ganz, ganz anders aussehen!"
"Ja, in der Tat, es gibt sehr grosse Unterschiede - haben Sie denn in der Schweiz schon mal so einen Friedhof gesehen?"
"Nein, noch nie. Aber aufgrund der Beschreibungen kann ich mir vorstellen, dass sie wirklich völlig anders aussehen - und deshalb verstehe ich jetzt auch, dass Sie hier photographieren."

Cimitero di Laigueglia. Oktober 2005
All at sea. 
Donnerstag, Oktober 13, 2005, 21:02 - ALASSIO
I’m all at sea
Where no one can bother me
Forgot my roots
If only for a day
Just me and my thoughts
Sailing far away
Like a warm drink it seeps into my soul
Please just leave me right here on my own
Later on you could spend some time with me
If you want to, all at sea

I’m all at sea
Where no-one can bother me
I sleep by myself
I drink on my own
I don’t speak to nobody
I gave away my phone
Like a warm drink it seeps into my soul
Please just leave me right here on my own
Later on you could spend some time with me
If you want to, all at sea (...)
(Jamie Cullum)

Endlich. 
Sonntag, Oktober 9, 2005, 15:42 - MUSIK
Gabriela Montero, hier 2002 anlässlich des Progetto Martha Argerich in Lugano, kaum bekannt noch.
Seither jedes Jahr dabei.
Foto: A. Heizmann
Martha Argerich hat sie schon immer als einzigartiges Talent bezeichnet.
Mirko Weber berichtet in der ZEIT Nr. 41/06.10.2005, dass die beiden Frauen
in München (wie ist mir DAS nun wieder entgangen?!) ...mit geradezu krimineller Energie
zusammen Rachmaninow gespielt haben...
Und: Martha Argerich, keine Freundin von Schmus und schönen Worten, sagt,
ihr sei schon lange nicht mehr so ein Talent untergekommen wie Gabriela Montero.
Bild: EMI
Und nun, mit 35 Jahren, ihre erste Aufnahme als Solistin.
Gleich ein Doppelalbum. Die zweite CD voll nur mit Improvisationen.
Ein starkes Stück.
EMI 5 58039
Im Land der "livre chocs". 
Sonntag, Oktober 9, 2005, 13:14
...oder wie die Menschen DER Kulturnation ihre Raubtiernatur kaschieren und den Schein mit eleganter Grandezza wahren...
Michael Mönninger zeichnet in der ZEIT Nr. 41 vom 06.10.2005 ein amüsantes Sittenbild zur Lage der Grande Nation:
Zu einer der größten kulturellen Ausnahmen Frankreichs zählt, dass das Land keine ausgeprägte Boulevardpresse besitzt. Abgesehen von einigen harmlosen Klatschzeitungen wie Le Parisien oder France Soir, fehlen Krawall- und Kampagnenblätter wie die britische Sun oder die Bild-Zeitung völlig. Von der Zurückhaltung der Presse profitierten bislang vor allem Politiker, deren Privatsphäre strikt gegen die Neugierde des Publikums abgeschirmt war. (...)
Wie immer, wenn die Obrigkeit etwas deckelt, sucht sich die Zivilgesellschaft neue Ventile. Unbeeindruckt von Respektabständen und Schutzvorkehrungen, kennen die Franzosen, die ihre Raubtiernatur deutlich besser als andere Völker kaschiert haben, längst eigene Wege der Lustbefriedigung. Weil nicht nur Boulevardblätter, sondern auch Brüllshows und bizarre Beichtkanäle im Fernsehen fehlen, kommen Abrechnungen und Enthüllungen vorzugsweise in Buchform ans Licht der Öffentlichkeit. »Livre choc« nennen selbst angesehene Verlage diese Titel, in denen jede Saison dutzendfach Prominente seziert, Denkmäler gestürzt oder Familienkatastrophen ausgebreitet werden. (...)
Doch wohl auch dieses Werk – ganz wie die anderen Schock-Bücher – wird kaum obszön oder ehrverletzend ausfallen, sondern elegant erzählt und angenehm lesbar sein. Darin kann man den Vorteil einer Kulturnation sehen, die selbst beim Appell an niedere Instinkte immer noch die gepflegte Buchform wahrt. Im Gegensatz zur Schärfte angelsächsischer oder auch deutscher Enthüllungsstorys glaubte man auf dem französischen Boulevard bislang nicht, dass Schadenfreude ausreicht, um klug zu werden. Erst seit dem Schwinden dieser Skepsis droht in Frankreich auch der tradierte Persönlichkeitsschutz zu fallen.

Den ganzen Artikel kann man hier nachlesen.

Jardin de Luxembourg, Oktober 2005
16.10.2005. 
Sonntag, Oktober 9, 2005, 01:42 - KINO & FILM & TV
Oooh, ich sehe gerade:
"Felix Vallotton - Maler gegen die Zeit" wird am 16.10.2005 auf SF 2 um 21.30 ausgestrahlt, im Rahmen der Reihe NZZ Format.
Ich habe diesen Film hier vor einigen Tagen in den höchsten Tönen gelobt - insbesondere auch den Kameramann, Matthias Kälin. Na dann - überzeugen Sie sich doch mal selber!
Momentaufnahme. 
Sonntag, Oktober 9, 2005, 01:31 - CAT-EGORY

Marais, Paris
Paris-Lektüre. 
Sonntag, Oktober 9, 2005, 00:32 - BÜCHER
Je näher dem Tod, desto gelöster, unkonventioneller schrieb sie, mit einer sachte aufkommenden Leichtigkeit, mitunter gar mit einem bei ihr doch eher ungewohnten Anflug von Heiterkeit, die erstaunt und zugleich hoch erfreut: Undine Gruenters Pariser Libertinagen, posthum erschienen im Hanser Verlag, habe ich mit wirklich ganz grossem Genuss gelesen, wie zwar schon alle ihre Bücher zuvor - doch dieses hier setzt ihrem subtilen Werk die Krone auf. Finde ich; und mag absolut keinen Widerspruch dulden jetzt.

(...) Helen hatte mich abgeholt, eine mit meiner Schwester befreundete Übersetzerin, die sich für ein halbes Jahr im 8. Arrondissement eine, wie sie sagte, 'möblierte Garçonnière' gemietet hatte, um Abstand zu gewinnen, wie sie sagte, Abstand von einem Geliebten, der bereits drei Frauen und doppelt so viele Kinder hatte, und wie üblich überstieg die Miete ihre finanziellen Mittel. Eine Liebesgeschichte, deren Auszüge ich bereits fragmentarisch aus Gesprächen kannte, die sich zuweilen einen düsteren Anstrich gab und von Verzweiflungsanfällen und überhöhtem Schlafmittelkonsum bis zu Liebesorgien in Gänseleberpastete alle Stadien einer tränenreichen Herzenstragödie durchlief. Als ich ankam, war gerade die Neuauflage oder ein Nachschlag der Gänseleberpastete an der Reihe, der Geliebte, ein Mann mit gelben Wildlederschuhen und durchbrochenen Schweinslederhandschuhen für Autofahrer, war zu Besuch und erwartete uns in der Wohnung, und ich lernte, dass Paris, die Stadt der Liebe, wie es hiess, vor allem die ihrer Abwesenheit war, und ein Geruchsgemisch aus Schneeregen, Sandstein, Balkongitter und lauwarmer, gegen Mitternacht auf dem breiten, himmelblau überzogenen Bett verspeister Gänseleberpastete. (...)

(Ausschnitt aus dem Kapitel "Paris, Anfänge")
Loblied. 
Samstag, Oktober 8, 2005, 16:00 - PARIS
Du hast Sorgen, sei es diese, sei es jene --- ins Kaffeehaus!
Sie kann, aus irgendeinem, wenn auch noch so plausiblen Grunde, nicht zu dir kommen --- ins Kaffeehaus!
Du hast zerrissene Stiefel --- Kaffeehaus!
Du hast 400 Kronen Gehalt und gibst 500 aus --- Kaffeehaus!
Du bist korrekt sparsam und gönnst dir nichts--- Kaffeehaus!
Du findest keine, die dir paßt --- Kaffeehaus!
Du stehst innerlich vor dem Selbstmord --- Kaffeehaus!
Du hasst und verachtest die Menschen und kannst sie dennoch nicht missen --- Kaffeehaus!
Man kreditiert dir nirgends mehr--- Kaffeehaus
Kaffeehaus
(Peter Altenberg, 1859-1919, Wien)

Marais, Rue St. Antoine

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