Sonntag, November 6, 2005, 16:08 -
SPURENSUCHE
Nicht ganz dasselbe wie die berühmte erste Nacht; v.a. hört man von der letzten Nacht in der Regel sehr viel seltener als von der ersten.
Ich bin jedenfalls gerüstet, komme, was da wolle. Vielleicht ein Ball? Bestimmt ein grossartiges Gala-Diner, bestimmt Musik… ich denke an Stephan Eichers Konzert, das er gab, als die letzte Stunde „seines“ Hotels in Engelberg schlug…
Ich bin gekommen, um zu tanzen. Habe mein letztes Geld zusammengekratzt, extra einen neuen Anzug gekauft - und auch sonst alles Nötige für jeden erdenklichen Fall mit dabei, sogar die grosse Kamera, falls es ganz heftig werden sollte; sogar mein Lieblingsauto hab’ ich gemietet.
„It’s a kind of magic“ schmettert Freddy Mercury gerade aus dem Autoradio. Nicht mehr und nicht weniger.
Ich halte den Kurs; Anflugschneise jetzt - noch die Bilder vom sonnigen und fröhlichen August 2005 vor Augen:
Samstag, 05.11.2005. ca 14:30 Uhr.Doch die Jahres- und andere Zeiten haben sich geändert.
Ankunft - November diesmal. Das Wetter: alles andere als einladend. Grau und regnerisch, aber kein Regen. Herbstlich die Temperaturen auch hier im Süden der Schweiz. Na ja, spielt eigentlich keine Rolle. Vor dem Grand Hotel steht immerhin eine stattliche Anzahl Autos. Also, jemand da - ich werde nicht allein sein! Zwar ist draussen kein Mensch zu sehen; aber mal schauen, wie’s drinnen aussieht; vielleicht hat ja die grosse Party schon angefangen?!
Doch auch im Innern scheint alles leer und verlassen; kein Mensch weit und breit. Komme mir irgendwie vor wie der einzige Gast, der sich zur falschen Zeit am falschen Ort befindet.
Hmm, wäre auch eine schöne Überraschung: Das ganze Haus nur für mich allein… – aaah doch, dort drüben ist jemand, die Dame an der Rezeption. Strahlt. Nimmt meine Personalien auf. Ja, es habe einige Gäste, dochdoch, aber auch noch freie Zimmer. Nein, etwas Spezielles gebe es heute Abend nicht. Alle seien traurig. Denn diesmal scheine die Schliessung wirklich unumgänglich und endgültig zu sein. Nein, leider könne man das Nachtessen nicht mehr hier im Hotel einnehmen; die Küchenbrigade arbeite bereits anderswo. Aber das Frühstück, ja, das gebe es wie gewohnt. Ob ich den Lift nehmen wolle; Hilfe fürs Gepäck?
Ich bedanke mich und verneine.
Das prächtige Treppenhaus will ich mir gerne zu Fuss und Stufe für Stufe und voll beladen vornehmen. Bis zuoberst. Zimmer 316.
Alles ist von beinahe unheimlich-feierlicher Stille; unheimlich deshalb, weil keine Menschenseele im riesigen, säulen- und kronleuchterdurchsetzten Halbdunkel des Treppenhauses und auf den langen Gängen dazwischen zu sehen ist – normalerweise lebendige Orte der Begegnung, des Gesprächs… Ich begegne niemandem; auch kein Hauspersonal in Sicht. Stimmen sind kaum zu hören - welch ein Gegensatz zum August.
Samstag, 05.11.2005. ca 16:00 Uhr.Ausgepackt. Eingeräumt.
Einige Innenaufnahmen gemacht. Völlig ungestört.
Beim Verlassen des Hotels ist nicht mal mehr die Dame an der Rezeption zu sehen. Also nehme ich den Schlüssel gleich mit. Kleiner Kleinstädtchenbummel. Die Piazza Grande hat an Grandiosität verloren, ist wieder zum Parkplatz Grande geworden. Äusserst erstaunt jedoch bin ich über die unglaublich vielen Leute, die das Städtchen beleben, die draussen in den Cafés sitzen oder herumflanieren; das hätte ich zu dieser Jahreszeit nun wirklich nicht erwartet. Beinahe so belebt wie zur Zeit des Filmfestivals. Kaufe Wasser, Champagner, Tessiner Mortadella - und lasse natürlich die
Grand-Cafe-Panetteria-Pasticceria-Confiserie AL PORTO nicht links liegen…
Samstag, 05.11.2005. ca 17:00 Uhr.Ich nehme mir vor, das Hotel bis zum Morgen nicht mehr zu verlassen. Lesen. Schreiben. Herumlaufen. Die Holzböden knarren angenehm unter dem schweren, etwas abgenutzten Teppich.
Samstag, 05.11.2005. ca 17:30 Uhr.Rundgang. Ah, jetzt doch immerhin etwas flüchtiges Leben im Haus, v.a. Einzelpersonen, die jedoch schnell wieder irgendwo in der sehr weitläufigen Anlage verschwinden. Z.B. einen jungen Mann im Lesezimmer gesichtet; doch als ich dort ankomme, ist er bereits wieder weg. Eine junge Dame kurz erblickt, nochmals hingeblickt – weg. Hmm, junge Leute… wo ich doch eher auf ältere Zausel und Nostalgiker gefasst war… Von ganz weit unten sind auf einmal angeregte Stimmen zu hören. Eine Gruppe (alles Frauen, alles Deutschschweizerinnen, wie ich von hoch oben vom galerieartig aufgebauten Treppenhaus feststellen kann) unterhält sich lebhaft, feiert irgendwas, beinahe schon unangemessen laut – und als ich mich eine Etage weiter nach unten ein bisschen in die Nähe begeben will – weg sind sie; in einem Saal nebenan, wie ich feststelle; doch die Türe ist geschlossen. Tja.
Die Dame an der Rezeption ist wieder anwesend, und nun nicht mehr allein. Vielleicht wird’s doch noch lustig – zumindest etwas lebendiger.
Samstag, 05.11.2005. ca 18:15 Uhr.Ich habe Hunger. Ich will aber nicht weg. Der Abend gehört dem Hotel. Ich will nichts verpassen. Ich telefoniere ein bisschen herum. Da, endlich jemand in einem Restaurant, der sich bereit erklärt, mir ein Nachtessen bringen zu lassen, samt Geschirr und Besteck und Gläsern.
Samstag, 05.11.2005. ca 18:45 Uhr.Es ist totenstill im Haus. Wahrscheinlich sind alle auswärts essen gegangen.
Samstag, 05.11.2005. ca 19:30 Uhr.Mein Essen wird geliefert. Offenbar habe ich mir einen Könner am Herd geangelt: Die „ravioli di zucca in salsa di noci“ und der „branzino al cartoccio“ sind perfekt. Kostet aber auch schön was! Geschirr und Gläser bringe ich eigenhändig zurück; Ehrensache.
Samstag, 05.11.2005. ca 21:00 Uhr.Neuerlicher Rundgang. Komme mir vor wie in einem Film; schöne Filmkulisse. Das hohe Mass an Authentizität überall, in der Gesamtkonzeption wie im Detail: Knäufe an Fenstern und Treppengeländern, Wagenfeld-Tischlampen, Eisengeländer überall, Fensterläden, die sich von innen (ohne das Fenster öffnen zu müssen) schliessen lassen, Wandlampen, Wandregale, Spiegel, Möbel etc, die nicht museal wirken, weil sie an ihrem angestammten Ort, in ihrem ursprünglichen Funktionszusammenhang belassen wurden.
Natürlich würden bestimmte Leute - ich würd' sie dann einfach mal ganz liebevoll-respektlos als "Banausen" bezeichnen - ihr feines Näschen rümpfen und etwas von „schäbig“ murmeln: Der Zahn der Zeit hat seine Wirkung getan, das ist nicht zu übersehen, v.a. in den Zimmern.
Mir jedoch macht das überhaupt nichts aus; so gesehen ziehe ich alte, „schäbige“ Hotels den neuen, "perfekten" eindeutig vor. Denn nur hier finde ich z.B. noch Perlen der Handwerkskunst und nicht einfach bloss industriell gefertigte 08/15-Massenware - Perlen, welche die Liebe zum Detail erkennen lassen, selbst bei an sich so "unwichtigen" Dingen wie Fenstergriffen.
Kaum zu glauben, dass das Gebäude nicht denkmalgeschützt ist.
Kaum zu glauben auch, dass die Gemeinde bisher kein Interesse gezeigt hat, das Hotel zu kaufen, zu erhalten – immerhin ein Wahrzeichen, ein Objekt von hohem Symbolwert für Locarno.
Samstag, 05.11.2005. ca 22:30 Uhr.Es ist Zeit für den Champagner und die exquisite Tessiner Mortadella, die so ganz anders schmeckt als die italienische (der Dank für dieses Wissen gebührt
Alice Vollenweider und ihrem Buch "Frischer Fisch und wildes Grün - Essen im Tessin").
Hmm - wahrscheinlich doch eine zu grosse Flasche gekauft. Aber wer da meint, ich lasse Champagner stehen, irrt gewaltig. Besonders heute.
Mein ursprüngliches Vorhaben jedoch, den Grossteil der Nacht wach zu bleiben, weicht zunehmend - mit jedem Schluck sozusagen - einem immer grösser werdenden Schlafbedürfnis.
Sonntag, 06.11.2005. 06:30 Uhr.Lange und traumlos und gut geschlafen.
Mache einen Etagenrundgang. Grosse Stille.
Mal schauen, ob ich beim Frühstück mehr als eine Person antreffe.
Sonntag, 06.11.2005. 08:00 Uhr.Beim Hinuntergehen höre ich Musik … Saxophon, leicht jazzig…aus einem Zimmer? Aus welchem? Im Erdgeschoss nochmals Musik, Klassisches diesmal… auch von irgendwoher; schwer zu eruieren: Ist alles so gross und weitläufig… Immerhin; Musik tönt durchs Haus; irgendwie angemessen, finde ich.
Beim Frühstück geht es ziemlich lebhaft zu und her! Etwa 17 Personen sind anwesend. Die Frauengruppe entpuppt sich als eine Gruppe von Musikerinnen, welche sich seit Jahren zum Proben hierher zurückzieht.
Jemand fotografiert; ein freischaffender Fotograf im Auftrag einer Tageszeitung, wie sich bald herausstellt. Der Auftrag: Die Athmosphäre der letzten Nacht, des letzten Tages einzufangen. Mich hat er bei der genau gleichen Tätigkeit erwischt (Photos mit freundlicher Genehmigung; ©
by Rémy Steinegger):
Immer mehr Leute betreten den Salon Bleu, niemand geht raus, wie wenn man den letzten Augenblick festhalten und nicht loslassen wollte.
Letzter Rundgang. All diese Menschen plötzlich, die da herumstehen, herumlaufen, fotografieren, konversieren; auch das Personal ist unterwegs, zum letzten Arbeitsgang…
Ein Kommen und Gehen, fast wie zu den besten Zeiten.
Von der Rezeption her ertönt Gelächter; Fröhlichkeit; keine Grabesstimmung; auch schön, trotz allem.
Sonntag, 06.11.2005. 09:30 – 12.00 Uhr.Die Hotelgäste der letzten Nacht verlassen nach und nach das Haus.
Aus den Dingen schwindet die Wärme
(Walter Benjamin).
Der Hoteldirektor meint zwar [„ich spiele hier nicht den Chef, ich BIN der Chef“ zu einem Anrufer am Telephon], das Grand Hotel Locarno werde bestimmt nicht vom Schicksal der Nichtnutzung oder des Verfalls heimgesucht werden wie so viele andere Häuser dieser Art. Spätestens in einem Jahr höre man wieder vom Grand Hotel.
"As tears go by". Marianne Faithful, unterwegs, aus dem Autoradio. Passt nicht schlecht zum Abschluss.