Montag, November 21, 2005, 21:54 - PRESSE
Sehr lesenswerter Wochenend-Leitartikel von R. M. in der NZZ Nr. 271 vom 19./20.11.2005: Schrumpfende und wachsende Gesellschaften
Alarmierende Töne vernimmt man aus den beiden Lagern in der Debatte über die demographische Entwicklung auf unserem Planeten Erde. Auf der einen Seite gibt es die zum Teil dramatischen Warnungen vor schrumpfenden Gesellschaften und den materiellen oder sozialen Folgen dieser Entwicklung. Solche Stimmen sind vor allem in Europa und in Japan zu hören. Hier sind die Geburtenraten in den letzten zwei Jahrzehnten insgesamt rückläufig. Sie liegen deutlich unter 2,1 Kindern pro Frau - der für die numerische Erhaltung einer Gesellschaft notwendigen statistischen Quote. William P. Butz, Vorsitzender eines auf demographische Fragen spezialisierten Instituts in Washington, bezeichnet die Vertreter dieser einseitig auf schrumpfende Bevölkerungen fixierten Denkrichtung als Implosionisten.
Auf der andern Seite stehen die sogenannten Explosionisten. Diese konzentrieren ihre Sicht und Sorge allein auf die Tatsache, dass die Weltbevölkerung weiterhin rasch anwächst. Nach einer häufig zitierten Uno- Schätzung wird die Zahl von heute 6,5 Milliarden Menschen bis zum Jahr 2050 nochmals um fast 50 Prozent auf 9 Milliarden zunehmen, ehe ein global rückläufiger Trend einsetzen könnte.
Die Explosionisten argumentieren, dass über 90 Prozent dieses Bevölkerungswachstums auf Entwicklungsländer im südlichen Teil der Erde entfallen würden, was in diesen Ländern zusätzliche soziale Konflikte anfachen und gleichzeitig den Druck zur Migration in die wohlhabenderen Regionen der nördlichen Halbkugel steigern werde. In dieser Perspektive muss ein weiteres Anwachsen der Weltbevölkerung während der nächsten Jahrzehnte nahezu unausweichlich zu verschärften Umweltkrisen und möglicherweise neuen Kriegen um knapper werdende Naturressourcen führen.
Anders als die meisten Länder Europas, inklusive Russland, und anders als Japan oder China (mit seinen staatlich verordneten Einkindfamilien) gehört Amerika zu jenen Industrienationen, wo weder eine schrumpfende Bevölkerung und eine gesellschaftliche Überalterung drohen noch sich die Gefahr einer sozial und materiell schwer zu verkraftenden Überbevölkerung (wie in Indien oder Pakistan) abzeichnet. In den USA liegt die Geburtenrate mit durchschnittlich 2 Kindern pro Frau praktisch auf dem Niveau des Reproduktionsfaktors. Hinzu kommen jährlich fast eine Million legale Immigranten (die Zahl der illegalen Einwanderer bleibt im Dunkeln). Wenn dieser Trend anhält, wird die Bevölkerung Amerikas von heute 290 Millionen bis zum Jahr 2050 auf 420 Millionen anwachsen.
Im gleichen Zeitraum wird nach heutigen Prognosen die Bevölkerung Deutschlands (mit 1,3 Kindern pro Frau) selbst bei gleich bleibender Einwanderung von 80 auf 70 Millionen schrumpfen. In Italien, Spanien, aber auch in Japan und Südkorea liegen die Fertilitätsraten noch niedriger. In Russland verkleinert sich die Bevölkerung schon seit Jahren empfindlich, weil dort neben einer tiefen Geburtenzahl die durchschnittliche Lebenserwartung wesentlich geringer ist als in Westeuropa. Indessen sind die demographischen Entwicklungen auch in Europa durchaus nicht einheitlich. In Irland und Island, in Frankreich und einigen skandinavischen Ländern wird die Bevölkerungszahl allein durch die Geburtenrate einigermassen im Gleichgewicht gehalten.
Die Gründe für die höhere Gebärfreudigkeit in einigen hochentwickelten westlichen Ländern sind offenbar nicht allein in staatlichen Unterstützungsmassnahmen (Kindergeld, Mutterschaftsurlaub, Ganztagesschulen) zu suchen. In den USA sind solche materiellen Vergünstigungen wesentlich bescheidener als etwa in Frankreich. Mehr Nachwuchs dürfte in unseren Breitengraden auch mit einem optimistischeren oder vertrauensvolleren gesellschaftlichen Klima, das kaum nur durch materielle Faktoren bestimmt wird, zu tun haben.
Die Perspektive abnehmender Bevölkerungen muss nicht notwendigerweise zu pessimistischen Niedergangsszenarien führen. Es gibt Prognostiker, die solche Entwicklungen für erstrebenswert halten, weil dadurch die Natur eher geschont und möglicherweise die allgemeine Lebensqualität erhöht werde. Probleme der materiellen Wohlstandssicherung wie die Frage der Altersrenten, so diese These, könnten auch bei sinkenden Geburtenraten gelöst werden - nämlich einerseits durch eine Erhöhung der wirtschaftlichen Produktivität und andererseits durch die Heraufsetzung des Pensionsalters.
Das mag bis zu einem gewissen Grade einleuchten. Doch wer übernimmt dann bei geringem Nachwuchs die soziale Betreuung der zunehmenden Zahl von nicht mehr arbeitsfähigen und pflegebedürftigen Alten? Die zentrale Herausforderung einer schrumpfenden Wohlstandsgesellschaft ist ja nicht die gesamthaft abnehmende Bevölkerungszahl, sondern die Überalterung, das heisst der wachsende Anteil der über 80-Jährigen bei gleichzeitig sinkenden Quoten für jüngere und mittlere Jahrgänge. Dass solche Verschiebungen in der Alterspyramide unweigerlich auch die Mentalität und innere Dynamik einer Gesellschaft beeinflussen, liegt auf der Hand - auch wenn man darüber kontrovers philosophieren kann, ob das mehr Nachteile oder Vorteile mit sich bringt.
Durch Einwanderung lassen sich die Probleme von Gesellschaften, deren Geburtenrate kontinuierlich unter der für die Reproduktion notwendigen Quote liegt, zumindest temporär entschärfen. Viele wohlhabende Länder profitierten bisher von einer dosierten Immigration - insbesondere die USA, deren Aufstieg zur wirtschaftlich und militärisch führenden Weltmacht ohne den stetigen und mindestens teilweise gezielt gesteuerten Zustrom neuer Kräfte und Talente kaum vorstellbar wäre.
Nachhaltig kann ein Bevölkerungsrückgang indessen nicht durch unbegrenzte Zuwanderung kompensiert werden. Denn erfahrungsgemäss haben Immigranten auf längere Sicht auch nicht mehr Kinder als in der neuen Heimat üblich. Und dass eine massenhafte Integration von Immigranten aus ferneren Kulturkreisen alles andere als problemlos verläuft, haben die jüngsten Banlieue-Unruhen in Frankreich oder die Terroranschläge in London im vergangenen Sommer wieder ins Bewusstsein gerufen.
In der Debatte um die demographische Zukunft reden die um schrumpfende Gesellschaften besorgten Implosionisten und die wegen der noch auf Jahrzehnte hinaus zunehmenden Weltbevölkerung alarmierten Explosionisten weitgehend aneinander vorbei. Beide Seiten führen aus ihrer Perspektive gewichtige Argumente ins Feld. Dass Frauen im afrikanischen Armenhaus Niger im Durchschnitt immer noch 8 Kinder zur Welt bringen (müssen) und die gegenwärtige Weltbevölkerung bis zur Mitte dieses Jahrhunderts nochmals um 50 Prozent ansteigen soll, ist kaum ein erstrebenswerter Zustand. Und es besteht auch kein Grund, sich beruhigt zurückzulehnen, weil in einigen reichen Ländern Westeuropas, in Japan und in Osteuropa die Geburtenzahlen sich seit Jahren weit unter der Reproduktionsrate bewegen.
Demographische Entwicklungen können in offenen Gesellschaften Gott sei Dank nicht diktatorisch dekretiert werden, wie das in China geschehen ist. Aber sie können durch materielle Massnahmen und breite gesellschaftspolitische Diskussionen beeinflusst werden. Ideal wären weder dramatisch wachsende noch bedrohlich schrumpfende Gesellschaften.
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