Montag, Dezember 5, 2005, 22:32 - PRESSE
Der «New York Observer» hat Ende November einen Aufruf des Kolumnisten Ron Rosenbaum mit dem Titel «Lieber Dmitri Nabokov! Verbrennen Sie Laura nicht!» veröffentlicht. Rosenbaum berichtet von Dmitri Nabokovs Absicht, möglicherweise den testamentarischen Willen seines Vaters zu befolgen und Nabokovs letztes unvollendetes Romanfragment, «The Original of Laura», zu vernichten. Vladimir Nabokov (1899-1977) hatte 1974 mit der Arbeit an TOOL (so die ironische Abkürzung des Romantitels) begonnen und in einem Tagebucheintrag bereits einen Untertitel festgelegt: «Dying is fun.»(Friedhof in Clarins bei Montreux)
Hier klingt ein zentrales Thema an, das als Nabokovs Todesmetaphysik bezeichnet werden könnte: Immer wieder taucht bei Nabokov die Vorstellung auf, die Grenze zwischen Leben und Tod sei fliessend und könne spielerisch überwunden werden. Diesen Vorgang fasste er in verschiedene Bilder wie etwa die Metamorphose der Schmetterlinge oder die literarische Transformation von realen Menschen zu Romanfiguren. Über den eigentlichen Text von TOOL ist wenig bekannt. Es handelt sich um eine Sammlung von etwa fünfzig eng beschriebenen Karteikarten, die einem Druckumfang von etwa 100 Seiten entsprechen. Nabokov selbst hielt den Inhalt streng geheim. In einem Brief vom 30. Oktober 1976 kokettierte er mit der Wichtigkeit dieses Projekts und zerstreute gleichzeitig auch die geringste Hoffnung, dass jemand etwas über TOOL berichten könnte: «Ich habe ‹Lauras Original› in meinem Geist fertiggestellt. Ich muss es etwa fünfzig Mal durchgegangen sein und habe es in einem Wachdelirium einem kleinen Traumpublikum in einem eingezäunten Garten laut vorgelesen. Mein Publikum bestand aus Pfauen, Tauben, meinen längst verstorbenen Eltern, zwei Zypressen, mehreren herumsitzenden jungen Krankenschwestern und einem Hausarzt, so alt, dass er beinahe unsichtbar war.»
Als Einziger hat Dmitri Nabokov den Text gelesen; ähnlich wie sein Vater zieht er bei ausgewählten Gelegenheiten der Nabokov-Fangemeinde den Speck durch den Mund. Aus seinen kryptischen Bemerkungen ist zu entnehmen, dass TOOL Nabokovs «brillantestes Werk» geworden wäre und in seiner «radikalen literarischen Eigenart» als «konzentriertes Destillat seiner Schaffenskraft» hätte gelten können. Es ist durchaus möglich, dass Dmitri Nabokov sich mit der Drohung, TOOL zu vernichten, an der sich verselbständigenden Nabokov-Philologie rächen will. Explizit verdammte Dmitri Nabokov in einem kürzlich erschienenen Interview mit der Zeitung «Iswestija» Interpretationen, die das Sujet von «Lolita» als literarische Verarbeitung eines pädophilen Verhältnisses zwischen dem jungen Vladimir Nabokov und dem Onkel deuten oder Nabokovs Philosophie als Nietzsche-Verschnitt präsentieren.
Während Dmitri Nabokov in solchen Fällen natürlich Recht hat, ist er bei anderen entschieden zu weit gegangen: Im September kam es im Internet-Forum NABOKV-List zu einem Eklat, weil Alexander Dolinin, einer der führenden Spezialisten, Nabokov als «Mythenschaffer» bezeichnet hatte, der mit seiner Selbststilisierung zum «Weltautor» die eigene Flucht aus Sowjetrussland rechtfertigen wollte. Im Verlauf der erhitzten Diskussion erteilte Dmitri Nabokov Dolinin Hausverbot im Petersburger Nabokov-Museum, bezeichnete den besänftigenden Moderator Donald B. Johnson als «Feigling» und verweigerte sich schliesslich jeder weiteren Korrespondenz.
Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass TOOL tatsächlich dieser Fehde zwischen Nabokovs Sohn und Nabokovs Interpreten zum Opfer fallen wird. Dmitri Nabokov hat angedeutet, dass er das Manuskript, das jetzt in einem Schweizer Banksafe lagert, einem Archiv übergeben könnte - mit der Auflage, es erst in fünfzig Jahren zugänglich zu machen.
Ulrich M. Schmid, NZZ 281/01.12.2005
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