Im Alter nimmt das Glück ab.
Dienstag, Oktober 3, 2006, 08:49 -
GLÜCK
Aus einem Interview mit
Margarete Mitscherlich.Sie haben in Ihrem Leben viel erreicht. Ist das ein männliches Glück?Margarete Mitscherlich: Nein. Das Glück am Erfolg ist nicht männlich, sondern durch und durch menschlich. Es geht ja nicht um Leistung. Sondern um die Freude darüber, dass etwas glückt. Man ist glücklich, wenn das gelingt, was man tun will. Ich wäre furchtbar glücklich, wenn ich noch flott laufen könnte. Aber das kann ich nicht mehr. Ich verstehe gut, wie sich Sportler fühlen. Es ist schön, seinen Körper zu beherrschen.
Das geht im Alter verloren.Margarete Mitscherlich: Stimmt. Kinder haben noch ein sehr körperliches Glücksgefühl. Sie stehen, laufen, rennen, können alles tun, was sie wollen, und sind stolz darauf. Im Alter nimmt das Glück ab. Nicht mit Genuss gehen zu können, immer wackelig zu sein - das ist schlimm.
Gibt es ein anderes Glück, das dafür entschädigt?Margarete Mitscherlich: Nein. Die Lust, den Körper ganz selbstverständlich zu beherrschen, ist nicht ersetzbar. Na gut: Es ist schön, die Natur zu betrachten, die Schattierungen von Licht und Schatten in den Bäumen zu sehen. Vielleicht ist man auch besinnlicher. Weil man nicht mehr das Gefühl hat, dies und jenes unbedingt tun oder besser sein zu müssen, als man ist.
Es steht nicht mehr so viel auf dem Spiel?Margarete Mitscherlich: Man hat nicht mehr viel Ehrgeiz zu befriedigen, stimmt. Im Alter erwartet man weniger, kann mehr sitzen, muss nicht dauernd versuchen, große Würfe zu machen. Ganz abgesehen davon: Je älter man wird, umso mehr Züge erkennt man an sich selbst, mit denen man am liebsten nichts zu tun hätte.
Haben Sie sich Ihrer Mutter auch im Alter nahe gefühlt?Margarete Mitscherlich: Sie war mir bis zum Tode nicht fremd. Man ist ein Mensch, wissen Sie, egal welches Alter man hat. Auch bei manchen jungen Menschen spüre ich Nähe. Natürlich haben junge Menschen eine andere Mentalität. Sie wollen alles und sind von Trieben gesteuert. Sexualität bedeutet ja in der Jugend sehr viel mehr als später. Ich erinnere mich noch an meine eigene Wut und Zerstörungslust und an diese furchtbare Eifersucht. Heute könnte ich vieles bestimmt mit größerer Milde dulden als früher.
Hat die Liebe Sie auch glücklich gemacht?Margarete Mitscherlich: In Augenblicken, ja. Aber man kann nicht auf ewig glücklich sein. Auch an die Liebe und den Partner gewöhnt man sich. Darum gibt es die große Liebe nicht. Außerdem guckt jeder Mensch mal hierhin, mal dahin, homosexuell, heterosexuell, das ist ganz normal.
Was bedeutet Ihnen Neugierde?Margarete Mitscherlich: Mein Mann sagte immer: Das ist was Neues, das musst du dir ansehen, das ist ganz wunderbar. Mir war das gelegentlich zu viel, diese Neugierde um der Neugierde willen. Natürlich bin ich sehr neugierig. Aber nicht neugierig auf alles. Ich habe keine Lust, jedes gute Bild anzusehen und jeden interessanten Menschen kennen zu lernen. Denn das kann einen auch überwältigen. Ich war schon als Kind viel allein in den Wäldern. Weil ich mit mir sein musste. In einer guten Beziehung muss man nicht dauernd reden. Man kann schweigen und man selbst sein und zu sich kommen in Gegenwart des anderen. Er sitzt da und ist einem nicht fremd. Er stört einen nicht und bringt einen nicht aus der Ruhe. Das ist die Grundlage eine dauerhaften Beziehung.
Dem Verliebtsein sieht das gar nicht ähnlich.Margarete Mitscherlich: Aber Verliebtsein hat mit dem täglichen Zusammenleben wenig zu tun. Wer ist denn schon dauernd verliebt?
Sie vielleicht. In Ihre Arbeit.Margarete Mitscherlich: Oh ja. Für die Emanzipation zu kämpfen war sehr lustvoll. Mein Buch "Die friedfertige Frau" habe ich als echte Befreiung erlebt. Weil es ein Versuch war, die Welt zu verändern und mit der Lust am Leben zu tun hatte und der Freude, anderen eins auszuwischen. Wir Frauen waren zusammen, ohne zu konkurrieren. Man konnte sagen, was man dachte, und versuchte, einander zu verstehen. Das war die reine Lust!
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DEUTSCHES ALLGEMEINES SONNTAGSBLATT, 25. August 2000 Nr. 34/2000