Mittwoch, Januar 17, 2007, 09:41 - PRESSE
... erlitt ich bei der Lektüre eines Romans von Robert Walser einen kleinen bis mittleren Schock, von dem ich mich bis heute nicht erholt habe. Den Tag kann ich ungefähr benennen, es wird Ende April gewesen sein, das Jahr 1994. Ganz genau sind die beiden Orte zu lokalisieren, an denen ich mich befand, der äussere und der innere. Der äussere lag bei Brügg, ein Ort zwischen Biel und Bern; der innere Ort betraf die Situation auf Seite zwölf in Walsers Roman «Der Räuber».So beginnt Lukas Bärfuss einen für die NZZ unter dem Titel "Der Augenblick der Sprache" zum Gedenken an R. Walser verfassten Artikel, den ich mir für die Ewigkeit aufbewahrt habe.
(...) Und dann, eben, wir hatten gerade den Bahnhof bei Brügg passiert, las ich auf Seite zwölf folgende Stelle: Auf Grund dieser Hilfe führte er gleichsam seine eigenartige Existenz weiter, und auf Grund dieser unalltäglichen und doch auch wieder alltäglichen Existenz baue ich hier ein besonnenes Buch auf, aus dem absolut nichts gelernt werden kann. Es gibt nämlich Leute, die aus Büchern Anhaltspunkte fürs Leben herausheben wollen. Für diese Sorte sehr ehrenwerter Leute schreibe ich demnach zu meinem riesiggrossen Bedauern nicht.
Ich will nicht sagen, dass ich aufschrie oder auch nur zusammenzuckte.... (...)
(...) In Abhandlungen gescheiter Menschen kann man immer wieder lesen, gute Texte besässen einen doppelten Boden, interessant sei, was uns der Dichter verschweige, was zwischen den Zeilen stehe, das Ungesagte. Das ist in allen Fällen Unfug, aber bei Walser ist genau das Gegenteil der Fall. Er zeigt uns, dass zwischen den Zeilen nichts ist ausser weisses Papier und dass jenseits des Papiers keine Welt wartet, keine Zeit und kein Ort.
Weil es bei ihm nichts zu lernen gibt, weil er keine Absicht verfolgt, keine Entwicklung aufzeigt, weder in seinem ganzen Werk noch in den einzelnen Texten, verbreitet dieser Robert Walser ein grosses Unbehagen. Er lässt sich nicht verwerten, nicht schulisch, nicht wirtschaftlich, nicht biografisch.
(...) Beides gibt es bei Walser nicht, weder die Vergangenheit noch die Zukunft. Er bietet uns etwas viel Kostbareres, nämlich den Augenblick der Sprache. Wenn wir ihn nicht in seinem Erscheinen erleben, so ist er verloren. Walser wertet diese Momente nicht. Es gibt bei ihm keine Unterschiede, alles ist gewöhnlich und erhaben zugleich. Es gibt nur den wahrgenommenen Moment, ob schön oder hässlich, das ist einerlei. Diesen Moment können wir nicht konservieren, seine Essenz nicht zusammenfassen, wir können bloss versuchen, aufmerksam zu sein, bereit, offen, leer.
Das ist der Grund, weshalb mich Walser damals im Zug zwischen Biel und Bern, auf der Höhe von Brügg, ins Herz getroffen hat. Und mich bei jeder Lektüre neu berührt. Seine Literatur fragt mich nicht, wer ich bin, was ich kann, was ich gelesen habe oder wie gross mein Wissen ist. Sie fragt mich bloss: Bist du bereit? Willst du sehen?
Lukas Bärfuss, "Der Augenblick der Sprache" in der NZZ vom 27. Mai 2006.
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