Montag, Juli 23, 2007, 18:59 -
MUSIKBeitrag von sb_admin
Die Kirche – menschenleer. Ganz hinten der riesige schwarze Flügel. Darauf wird sie spielen – in etwa acht Stunden. Vorher kommt sie betimmt noch vorbei, zum Üben. Das macht man einfach so. Das machen alle hier. Die Frage ist nur wann. Egal. Ich lege die mitgebrachte Rose auf den Flügel. Rot auf Schwarz – wunderbar. Zu meinem Erstaunen ist der Deckel nicht abgeschlossen. Ich öffne ihn schon mal vorsorglich und sehr, sehr ehrfürchtig; das ist alles, was ich für sie tun kann. Und tun will.
Die Wartezeit vertreibe ich mir mit einem
Petite Arvine, mit Lesen und Schreiben, mit noch einem Arvine, mit einem Besuch der master class, mit kleinen Spaziergängen, wobei ich es so einrichte, dass ich stets und regelmässig bei der Kirche vorbeikomme. Dort gehen v.a. Techniker ein und aus, jemand stimmt den Flügel, an welchem es eigentlich nichts mehr zu stimmen gibt, an der Beleuchtung wird gefeilt, Tonproben werden gemacht – das Übliche eben.
Ich mache es mir schliesslich auf einem der Holzbänke vor der Kirche gemütlich - die Sonne brennt, der Arvine wirkt, langsam sinkt mein Buch immer tiefer, ich nicke doch tatsächlich ganz leicht ein - und werde irgendwann von gewaltigen Akkordkaskaden geweckt.
Kurz nach drei Uhr nachmittags, ungefähr.
Das muss sie sein.
Das ist sie.
In der zweitvordersten Reihe, rechts von ihr, richte ich mich ein und lausche gebannt. Sie spielt und spielt und spielt, selbstvergessen, versunken in die Musik, ohne Notenblätter, ohne pathetisches Gehabe, sie spielt einfach; mehr als zweieinhalb magische Stunden werden es am Schluss sein.
Herrlichste Musik. Wahnsinn.
Sie unterbricht kaum – zwei-, dreimal, wegen dem Licht, welches störende Schatten auf die Tastatur wirft; ihre melancholische Stimme tönt sehr angenehm, warm, sie lächelt selten, doch wenn sie es tut, ist es immer ausserordentlich herzlich.
Es hat ausser mir praktisch keine Zuhörer; die Handvoll Licht- und Tontechniker, welche sich aber v.a. auf ihre Messgeräte konzentrieren; einige wenige Passanten manchmal, die neugierig hereinkommen, ein bisschen verweilen und wieder gehen.
Ich wage es, einige Aufnahmen zu machen, ohne Blitzlicht - ich hasse Blitzlichtaufnahmen; nur im Notfall. Und dies hier ist kein Notfall. Dass ich fotografiere, wird sie, versunken in die Musik, wohl nicht registrieren, und falls doch, dann empfindet sie es offensichtlich nicht als störend.
Kurz vor halb sechs Uhr verlasse ich leise und wie in Trance die Kirche – bald ist Essenszeit, sie wird ihr Spiel wohl gleich abbrechen und sich noch eine Pause vor dem Konzert gönnen.
Ich beschliesse spontan, das Konzert von heute Abend nicht zu besuchen – mehr kann ein Mensch nicht bekommen als das, was ich eben erhalten habe; grandiose, ungezwungene Fingerübungen, ein Konzert nur für mich allein. Ein Geschenk. Ich habe sie erlebt, wie das grosse Publikum von heute Abend sie nicht erleben wird: Ungeschminkt (im doppelten Sinn), in Alltagskleidern, mit ungebändigter Frisur, unbändig nach Lust und Laune drauflos spielend.
Kaum im Auto, das Dorf bereits hinter mir, bin ich hin- und hergerissen: Da hast du ein Ticket und willst das Konzert, auf das du dich so gefreut hast, das in kaum zwei Stunden beginnt, einfach fallen lassen?! Ich wende den Mietwagen und fahre wieder zurück. Da – rechts, auf dem Trottoir, sie – hat ihre Übungen tatsächlich abgebrochen und läuft ganz alleine von der Kirche hinunter ins Dorf; kein Chauffeur, der sie abholt, wie man das vielleicht annehmen würde; und nicht oben im teuersten 5-Sterne-Hotel logierend, wie man das…
Ja, ich "brauche" das Konzert nicht und nehme endgültig Kurs auf Bern.
Manchmal muss man weniger müssen, als man meint.
Die Rose übrigens:
Die lag die ganze Zeit auf der vordersten Kirchenbank, auf ihrer Handtasche. Und ganz am Schluss, dort auf dem Trottoir - lugte sie aus ihrer Tasche heraus.