Die letzte Nacht. 
Sonntag, November 6, 2005, 16:08 - SPURENSUCHE
Nicht ganz dasselbe wie die berühmte erste Nacht; v.a. hört man von der letzten Nacht in der Regel sehr viel seltener als von der ersten.
Ich bin jedenfalls gerüstet, komme, was da wolle. Vielleicht ein Ball? Bestimmt ein grossartiges Gala-Diner, bestimmt Musik… ich denke an Stephan Eichers Konzert, das er gab, als die letzte Stunde „seines“ Hotels in Engelberg schlug…
Ich bin gekommen, um zu tanzen. Habe mein letztes Geld zusammengekratzt, extra einen neuen Anzug gekauft - und auch sonst alles Nötige für jeden erdenklichen Fall mit dabei, sogar die grosse Kamera, falls es ganz heftig werden sollte; sogar mein Lieblingsauto hab’ ich gemietet.
„It’s a kind of magic“ schmettert Freddy Mercury gerade aus dem Autoradio. Nicht mehr und nicht weniger.
Ich halte den Kurs; Anflugschneise jetzt - noch die Bilder vom sonnigen und fröhlichen August 2005 vor Augen:

archiv; locarno novembre 2005 077

Samstag, 05.11.2005. ca 14:30 Uhr.
Doch die Jahres- und andere Zeiten haben sich geändert.
Ankunft - November diesmal. Das Wetter: alles andere als einladend. Grau und regnerisch, aber kein Regen. Herbstlich die Temperaturen auch hier im Süden der Schweiz. Na ja, spielt eigentlich keine Rolle. Vor dem Grand Hotel steht immerhin eine stattliche Anzahl Autos. Also, jemand da - ich werde nicht allein sein! Zwar ist draussen kein Mensch zu sehen; aber mal schauen, wie’s drinnen aussieht; vielleicht hat ja die grosse Party schon angefangen?!
Doch auch im Innern scheint alles leer und verlassen; kein Mensch weit und breit. Komme mir irgendwie vor wie der einzige Gast, der sich zur falschen Zeit am falschen Ort befindet.
Hmm, wäre auch eine schöne Überraschung: Das ganze Haus nur für mich allein… – aaah doch, dort drüben ist jemand, die Dame an der Rezeption. Strahlt. Nimmt meine Personalien auf. Ja, es habe einige Gäste, dochdoch, aber auch noch freie Zimmer. Nein, etwas Spezielles gebe es heute Abend nicht. Alle seien traurig. Denn diesmal scheine die Schliessung wirklich unumgänglich und endgültig zu sein. Nein, leider könne man das Nachtessen nicht mehr hier im Hotel einnehmen; die Küchenbrigade arbeite bereits anderswo. Aber das Frühstück, ja, das gebe es wie gewohnt. Ob ich den Lift nehmen wolle; Hilfe fürs Gepäck?
Ich bedanke mich und verneine.
Das prächtige Treppenhaus will ich mir gerne zu Fuss und Stufe für Stufe und voll beladen vornehmen. Bis zuoberst. Zimmer 316.
Alles ist von beinahe unheimlich-feierlicher Stille; unheimlich deshalb, weil keine Menschenseele im riesigen, säulen- und kronleuchterdurchsetzten Halbdunkel des Treppenhauses und auf den langen Gängen dazwischen zu sehen ist – normalerweise lebendige Orte der Begegnung, des Gesprächs… Ich begegne niemandem; auch kein Hauspersonal in Sicht. Stimmen sind kaum zu hören - welch ein Gegensatz zum August.

archiv; locarno novembre 2005 059

Samstag, 05.11.2005. ca 16:00 Uhr.
Ausgepackt. Eingeräumt.

archiv; locarno novembre 2005 048

Einige Innenaufnahmen gemacht. Völlig ungestört.

archiv; locarno novembre 2005 076

Beim Verlassen des Hotels ist nicht mal mehr die Dame an der Rezeption zu sehen. Also nehme ich den Schlüssel gleich mit. Kleiner Kleinstädtchenbummel. Die Piazza Grande hat an Grandiosität verloren, ist wieder zum Parkplatz Grande geworden. Äusserst erstaunt jedoch bin ich über die unglaublich vielen Leute, die das Städtchen beleben, die draussen in den Cafés sitzen oder herumflanieren; das hätte ich zu dieser Jahreszeit nun wirklich nicht erwartet. Beinahe so belebt wie zur Zeit des Filmfestivals. Kaufe Wasser, Champagner, Tessiner Mortadella - und lasse natürlich die Grand-Cafe-Panetteria-Pasticceria-Confiserie AL PORTO nicht links liegen…

Samstag, 05.11.2005. ca 17:00 Uhr.
Ich nehme mir vor, das Hotel bis zum Morgen nicht mehr zu verlassen. Lesen. Schreiben. Herumlaufen. Die Holzböden knarren angenehm unter dem schweren, etwas abgenutzten Teppich.

archiv; locarno novembre 2005 052

Samstag, 05.11.2005. ca 17:30 Uhr.
Rundgang. Ah, jetzt doch immerhin etwas flüchtiges Leben im Haus, v.a. Einzelpersonen, die jedoch schnell wieder irgendwo in der sehr weitläufigen Anlage verschwinden. Z.B. einen jungen Mann im Lesezimmer gesichtet; doch als ich dort ankomme, ist er bereits wieder weg. Eine junge Dame kurz erblickt, nochmals hingeblickt – weg. Hmm, junge Leute… wo ich doch eher auf ältere Zausel und Nostalgiker gefasst war… Von ganz weit unten sind auf einmal angeregte Stimmen zu hören. Eine Gruppe (alles Frauen, alles Deutschschweizerinnen, wie ich von hoch oben vom galerieartig aufgebauten Treppenhaus feststellen kann) unterhält sich lebhaft, feiert irgendwas, beinahe schon unangemessen laut – und als ich mich eine Etage weiter nach unten ein bisschen in die Nähe begeben will – weg sind sie; in einem Saal nebenan, wie ich feststelle; doch die Türe ist geschlossen. Tja.
Die Dame an der Rezeption ist wieder anwesend, und nun nicht mehr allein. Vielleicht wird’s doch noch lustig – zumindest etwas lebendiger.

Samstag, 05.11.2005. ca 18:15 Uhr.
Ich habe Hunger. Ich will aber nicht weg. Der Abend gehört dem Hotel. Ich will nichts verpassen. Ich telefoniere ein bisschen herum. Da, endlich jemand in einem Restaurant, der sich bereit erklärt, mir ein Nachtessen bringen zu lassen, samt Geschirr und Besteck und Gläsern.

Samstag, 05.11.2005. ca 18:45 Uhr.
Es ist totenstill im Haus. Wahrscheinlich sind alle auswärts essen gegangen.

archiv; locarno novembre 2005 069

Samstag, 05.11.2005. ca 19:30 Uhr.
Mein Essen wird geliefert. Offenbar habe ich mir einen Könner am Herd geangelt: Die „ravioli di zucca in salsa di noci“ und der „branzino al cartoccio“ sind perfekt. Kostet aber auch schön was! Geschirr und Gläser bringe ich eigenhändig zurück; Ehrensache.

archiv; locarno novembre 2005 086

Samstag, 05.11.2005. ca 21:00 Uhr.
Neuerlicher Rundgang. Komme mir vor wie in einem Film; schöne Filmkulisse. Das hohe Mass an Authentizität überall, in der Gesamtkonzeption wie im Detail: Knäufe an Fenstern und Treppengeländern, Wagenfeld-Tischlampen, Eisengeländer überall, Fensterläden, die sich von innen (ohne das Fenster öffnen zu müssen) schliessen lassen, Wandlampen, Wandregale, Spiegel, Möbel etc, die nicht museal wirken, weil sie an ihrem angestammten Ort, in ihrem ursprünglichen Funktionszusammenhang belassen wurden.

archiv; locarno novembre 2005 097

Natürlich würden bestimmte Leute - ich würd' sie dann einfach mal ganz liebevoll-respektlos als "Banausen" bezeichnen - ihr feines Näschen rümpfen und etwas von „schäbig“ murmeln: Der Zahn der Zeit hat seine Wirkung getan, das ist nicht zu übersehen, v.a. in den Zimmern.

archiv; locarno novembre 2005 001

Mir jedoch macht das überhaupt nichts aus; so gesehen ziehe ich alte, „schäbige“ Hotels den neuen, "perfekten" eindeutig vor. Denn nur hier finde ich z.B. noch Perlen der Handwerkskunst und nicht einfach bloss industriell gefertigte 08/15-Massenware - Perlen, welche die Liebe zum Detail erkennen lassen, selbst bei an sich so "unwichtigen" Dingen wie Fenstergriffen.

archiv; locarno novembre 2005 057

Kaum zu glauben, dass das Gebäude nicht denkmalgeschützt ist.
Kaum zu glauben auch, dass die Gemeinde bisher kein Interesse gezeigt hat, das Hotel zu kaufen, zu erhalten – immerhin ein Wahrzeichen, ein Objekt von hohem Symbolwert für Locarno.

Samstag, 05.11.2005. ca 22:30 Uhr.
Es ist Zeit für den Champagner und die exquisite Tessiner Mortadella, die so ganz anders schmeckt als die italienische (der Dank für dieses Wissen gebührt Alice Vollenweider und ihrem Buch "Frischer Fisch und wildes Grün - Essen im Tessin").
Hmm - wahrscheinlich doch eine zu grosse Flasche gekauft. Aber wer da meint, ich lasse Champagner stehen, irrt gewaltig. Besonders heute.
Mein ursprüngliches Vorhaben jedoch, den Grossteil der Nacht wach zu bleiben, weicht zunehmend - mit jedem Schluck sozusagen - einem immer grösser werdenden Schlafbedürfnis.

Sonntag, 06.11.2005. 06:30 Uhr.
Lange und traumlos und gut geschlafen.
Mache einen Etagenrundgang. Grosse Stille.
Mal schauen, ob ich beim Frühstück mehr als eine Person antreffe.

Sonntag, 06.11.2005. 08:00 Uhr.
Beim Hinuntergehen höre ich Musik … Saxophon, leicht jazzig…aus einem Zimmer? Aus welchem? Im Erdgeschoss nochmals Musik, Klassisches diesmal… auch von irgendwoher; schwer zu eruieren: Ist alles so gross und weitläufig… Immerhin; Musik tönt durchs Haus; irgendwie angemessen, finde ich.
Beim Frühstück geht es ziemlich lebhaft zu und her! Etwa 17 Personen sind anwesend. Die Frauengruppe entpuppt sich als eine Gruppe von Musikerinnen, welche sich seit Jahren zum Proben hierher zurückzieht.

archiv; locarno novembre 2005 117

Jemand fotografiert; ein freischaffender Fotograf im Auftrag einer Tageszeitung, wie sich bald herausstellt. Der Auftrag: Die Athmosphäre der letzten Nacht, des letzten Tages einzufangen. Mich hat er bei der genau gleichen Tätigkeit erwischt (Photos mit freundlicher Genehmigung; © by Rémy Steinegger):

archiv; locarno novembre 2005

Immer mehr Leute betreten den Salon Bleu, niemand geht raus, wie wenn man den letzten Augenblick festhalten und nicht loslassen wollte.

archiv; locarno novembre 2005

Letzter Rundgang. All diese Menschen plötzlich, die da herumstehen, herumlaufen, fotografieren, konversieren; auch das Personal ist unterwegs, zum letzten Arbeitsgang…
Ein Kommen und Gehen, fast wie zu den besten Zeiten.
Von der Rezeption her ertönt Gelächter; Fröhlichkeit; keine Grabesstimmung; auch schön, trotz allem.

archiv; locarno novembre 2005 112

Sonntag, 06.11.2005. 09:30 – 12.00 Uhr.
Die Hotelgäste der letzten Nacht verlassen nach und nach das Haus.
Aus den Dingen schwindet die Wärme (Walter Benjamin).
Der Hoteldirektor meint zwar [„ich spiele hier nicht den Chef, ich BIN der Chef“ zu einem Anrufer am Telephon], das Grand Hotel Locarno werde bestimmt nicht vom Schicksal der Nichtnutzung oder des Verfalls heimgesucht werden wie so viele andere Häuser dieser Art. Spätestens in einem Jahr höre man wieder vom Grand Hotel.
"As tears go by". Marianne Faithful, unterwegs, aus dem Autoradio. Passt nicht schlecht zum Abschluss.

archiv; locarno novembre 2005 136
Melancholie. 
Mittwoch, November 2, 2005, 20:50 - SPURENSUCHE

Bald, sehr bald schon werden diese Gläser zum letzten Mal gefüllt...

... dann gehen die Lichter aus...

... und anschliessend stehen Räume wie dieser hier plötzlich einfach leer, vielleicht für Jahre, Jahrzehnte - dem eigenartigen Schicksal unzähliger Grand Hotels folgend.

Familie Baumann aus Deutschland ist nochmals angereist. «Wir sind verrückt nach diesem Hotel, in drei Jahren waren wir 14-mal hier», schwärmt Herr Baumann. Doch dann überkommen ihn Traurigkeit und Ärger. Denn das Grand Hotel Locarno schliesst am kommenden Wochenende seine Pforten. Am 5. November ist definitiv Schluss. Es ist keine gewöhnliche Winterpause, sondern das Ende einer Epoche, auch wenn noch vereinzelt Bankette stattfinden werden. Die Eigentümer kündigten Hoteldirektor Urs Zimmermann den dreijährigen Pachtvertrag vorzeitig auf, um – wie es hiess – «eine Reflexionspause einzulegen». 25 Mitarbeiter verlieren ihre Stelle.
Mit dem Dreisternhotel und seinem einzigartigen Charme des Vergänglichen ist es in der jetzigen Form bald vorbei. Concierge Olivier – seit sieben Jahren im Hotel tätig – ist wie viele Gäste untröstlich: «Es ist eine Schande, dieses historische Haus zu schliessen.» Er erzählt von etlichen Stammgästen, die in diesen Tagen kommen, «um Abschied zu nehmen». Eine Unterschriftensammlung liegt an der Reception «Rettet das Grand Hotel». Rund 1500 Personen haben unterschrieben, darunter Bundesrat Pascal Couchepin undFDP-Nationalrat Filippo Leutenegger – während des Filmfestivals, wenn das Haus ein Dreh- und Angelpunkt des cinephilen Lebens ist.

Zukunft unklar
Die Zukunft des historischen, 1875 erbauten Hotels mit seinen prachtvollen Sälen steht in den Sternen. Sicher ist nur: Die Eigentümergemeinschaft will das Objekt verkaufen oder allenfalls einen Pachtvertrag über einen sehr langen Zeitraum (20 bis 30 Jahre) abschliessen. «Der Kaufpreis beträgt 22 Millionen Franken, 18 Millionen für Haus und Umschwung, 4 Millionen für das Inventar», sagt Giancarlo Cotti, der die fünf Eigentümer vertritt. Er dementiert Berichte, wonach der Preis auf 16 Millionen Franken gesunken sei. Es gebe ernsthafte Interessenten, präzisiert er. Aber: «Nicht der Kaufpreis schreckt ab, sondern die nötigen Investitionen.» Diese Einschätzung war in den letzten Jahren häufig zu hören. Etliche Millionen sind für eine Renovation nötig.
Was bisher nicht bekannt war: Unter den potenziellen Interessenten befindet sich auch die New York Film Academy (NYFA). Die renommierte Filmschule, die Regisseure, Schauspieler und Drehbuchautoren ausbildet, will ihr Netz an europäischen Niederlassungen (bisher Oxford, Paris und Florenz) ausbauen, schon 2006 eine Filiale in der Schweiz gründen und dazu ein repräsentatives Hotel nutzen. Von den vorgeschlagenen Objekten scheint das Grand Hotel Locarno besonders interessant zu sein. Locarno ist Filmfestivalstadt, im Park des Grand Hotel begann das Filmfestival 1946, Venedig und Cannes sind nicht allzu weit entfernt, das Klima im Tessin mehr als angenehm. «Es gehört definitiv zur engeren Wahl», heisst es bei der NYTA auf Anfrage.
Nicht zum ersten Mal werden alternative Nutzungen des Grand Hotels diskutiert. Von einem Sitz für die kantonale Hotelfachschule war bereits die Rede. Doch daraus wurde genauso wenig wie aus dem Projekt für den Umbau in eine Spielbank. Und die Befürchtung besteht, dass das nicht unter Denkmalschutz stehende Grand Hotel womöglich nach einer Veräusserung ganz oder teilweise in luxuriöse Wohnungen umgebaut wird.

Spendensammlung
Um das Hotel zu retten und sanft zu renovieren, ist inzwischen auch eine Privatgruppe um Hotelier Urs Zimmermann aktiv geworden. Mit dem Verein Pro Grand Hotel Locarno wird eine gross angelegte und schweizweite Spendensammlung lanciert. Allerdings: Falls die Spendensammlung bis Ende Juni 2006 nicht annähernd 20 Millionen Franken ergibt, wird die Aktion abgebrochen und der Verein aufgelöst. Vorstandsmitglied und Optiker Felix Stiefel ist sich bewusst, dass das Ziel hoch gesteckt ist: «Aber ich will mir nicht einmal vorwerfen, nicht alles zur Rettung dieses Hauses versucht zu haben.»

Gute Saison 2005
Die Bemühungen zur Rettung des Hotels sind umso verständlicher, wenn man bedenkt, wie gut die Saison 2005 gelaufen ist. Von der Schliessung anderer Gästehäuser wie dem Albergo Muralto, Zurigo und Beau Rivage konnte das Grand Hotel profitieren. Die Auslastung war sehr gut, und das nicht nur zu Filmfestivalzeiten. Dies räumt auch Giancarlo Cotti ein. Gleichwohl gebe es in der jetzigen Eigentümergemeinschaft keine Mehrheit für nötige Investitionen, sagt er. Vom gross geplanten Kehraus mit einer Öffnung zu Sylvester, wie vom Hotelmanagement gewünscht, hält Eigentümer Cotti nicht viel. Er befürchtet, dass sich viele Gäste dann ein Souvenir mit nach Hause nehmen und das Inventar somit verschwindet. (...)

Text: Gerhard Lob, in der Tageszeitung BUND vom 31.10.05.
Verbotene Früchte. 
Sonntag, Oktober 30, 2005, 21:30 - SPURENSUCHE





Hotel Angst, Oktober 2005.
Hotel Angst. 
Samstag, Oktober 15, 2005, 16:24 - SPURENSUCHE
Unser Mann – nennen wir ihn Frederick Fitzroy Hamilton – kam 1904 in Bordighera an, verfolgte den eleganten Flug einer Silbermöwe und bezog eine Suite im komfortvollen Grandhotel Angst, wo es stets Warmwasser gab, einen Kutschenbahnhof und eine Hotelbibliothek.
Man lebte in jenen Tagen in Bordighera inmitten herrlich wilder Terrassen mit 50000 Olivenbäumen, genoss den Duft des nachtaktiven Jasmins, der afrikanischen Tamarisken und der die Luft parfümierenden Orchideen, und am Ende des Dorfs war ein kleiner Fischerhafen, zu dem ein schmaler Weg aus der Altstadt führte.

Hamilton war aus London angereist. Wie so viele hatte auch er Il Dottor Antonio gelesen, jenen Roman des Chevaliers Giovanni Ruffini, der ihn und seine Landsleute sinnlich derart erregte, dass sie sehnsuchtsvoll, das Buch im Gepäck, in Richtung Süden aufbrachen, einem Stück reiseliterarischer Romantik auf der Spur, das sich wie folgt zusammenfassen lässt: Im herrlich hellen Frühling des Jahres 1840 kommt eine von vier Pferden gezogene Kutsche die Grande Corniche entlang, in der Kabine zwei englische Touristen, Sir John Davenne und seine Tochter Lucy. Doch, ach, die Kutsche bricht in Bordighera, Miss Lucy ist verletzt, und zur Hilfe kommt: der schöne Dottore.
1857 in London publiziert, wurde das moderne Märchen schnell zum Bestseller und die Blumenriviera zum Symbol des botanischen Elysiums, wo die Dattelpalmen nicht der Früchte, sondern der Schönheit ihrer Blätter wegen angebaut wurden. Zu Tausenden machten die fernwehgeschmerzten Briten fortan auf der neu eröffneten Eisenbahnlinie dort Halt, wo die Natur das Bel Paese bis heute am meisten verwöhnt: in Bordighera, im Angesicht des ligurischen Apennins und der schneebedeckten Kappen der französischen Seealpen. Dort verbrachten die aus der nassen Kälte des Nordens stammenden Insulaner lange, schöne, milde Wintermonate.

Oben, im Hang, an der Via Romana, träumen wir hundert Jahre später, muss Fitzroy Hamilton einst gewohnt haben, verliebt in den zarten Leichtsinn des Südens, in die Quirligkeit junger Eidechsen und das Karminrot der Gladiolen. Wir sehen hinauf, wo Bordigheras Grandhotels noch immer posieren, und je weiter hangaufwärts wir blicken, desto fresken- und stuckfassadenreicher inszenieren sich die von herrschaftlichen Parks umgebenen Jugendstilvillen aus der Glanzzeit des Ortes, Häuser einer großen Vergangenheit, in denen heute meist kleine Appartements untergebracht sind. Die Villa Sainte Odile, von Zitronenbäumen gesäumt; die Villa San Silvestro, mit gelb-weiß gestreiften Markisen. Die grandios verfallende Villa Angst mit ihrem arg verletzten Stolz, den verrosteten Eisengittern und nistenden Amselfamilien, dem Plastikmüll und den ungeschnittenen Palmen aber steht leer und einsam, vernarbt die Fassade, verwahrlost die Seele. Die Belle Epoque prächtelt dahin in der späten Moderne. Aristokratische Haltung, will es scheinen, stilistische Noblesse: tempi passati. Und am Eisengitter der Villa Angst kuscht ängstlich eine den Niedergang beweinende Katze, bevor der Straßenkehrer sie verscheucht.

Der Lungomare Argentina, die Seepromenade, gehört den Bladern, Skatern, Gauklern und Joggern. Der Strand ist liegestuhlverwaltet, alles ist sauber und ausgesprochen ordentlich. Es knattern die Piaggios, und tief schnaufen die vorbeifahrenden Züge, und in den Hollywoodschaukeln wippen gebräunte Signori in Trainingsanzügen. Auf dem Balkon des Piccolo-Lido-Hotels sitzend, den Blick aufs klare Wasser mit den himmelwärts drängenden Motoryachten, sehen wir die gelben und blau-weiß gestreiften Sonnenschirmmützen, die wie glückliche Pilze zwischen heißen Steinchen stecken, und wir hören die wendigen, fontänensprühenden Jet-Ski-Renner und das anbrandende, in den schmatzenden Grobkiesel krabbelnde Meer. Dann schließen wir die Augen und stellen uns aufs Neue Frederick Fitzroy Hamilton vor, wie er, als einer von 3000 Untertanen der Queen in Bordighera, über das dunkle, mit Intarsienmosaiken versehene Fischgrätenparkett seines Grandhotels stolziert, sich in die roten Plüschpolster der dreiteiligen Couch setzt, vor Gardinen mit buschigen roten, grünen und weißen Troddeln. Und wie er dann, vorbei am gelben Ginster, den roten Geranien, den Pfirsich- und Eukalyptusbäumen, hinabgeht in den Vorgarten mit den Heckenrosen, um auf der Viale Regina Elena, dem heutigen Corso Italia, zu spazieren, eine Tasse Tee zu trinken und am späten Nachmittag, gewiss im neckischsten Badeanzug, genau hier, neben unserem Hotel, am Capo Sant’Ampelio, ins Mittelmeer zu steigen.

1904 ist Bordighera eine Art Paradies der Engländer. Alles ist englisch, alles auf Engländer ausgerichtet, und alles kommt von der Insel, sogar die Spaghetti, die, wie sich ein damaliger Beobachter mokiert, »kalt serviert« werden. Es gibt englische Ärzte, englische Makler, Schafwollprodukte aus Yorkshire, es entstehen die ersten Lawn-Tennis-Clubs. Alles gedeiht zum Besten, und das Dorf ist auf dem Weg, zu einer neuen Perle des frühen internationalen Tourismus zu werden. Dann aber, warum auch immer, schränkt die italienische Regierung die Glücksspielkonzessionen des Landes ein und limitiert den erlaubten Einsatz auch im sieben Kilometer entfernten Casino von San Remo, was eine Einladung zur Auswanderung war, die ein paar zu jener Zeit nicht sehr bedeutende Orte an der benachbarten Côte d’Azur gern annahmen: Nizza und Monte Carlo hießen sie, und hier durfte allzeit so viel Geld verloren werden wie möglich. Es kam das britische Pfund an die Côte, Libertinage und Champagnerlust, und mit Grace Kelly kam Hollywood, mit Hollywood der Jet-Set, und Bordighera fiel, ohne müde zu sein, in einen lähmenden Schlaf.

Heute ist die Kleinstadt gänzlich unenglisch. Bordigheras Seele ist ligurisch. 11000 Menschen leben ohne Aufwand. Die Fischerdorfromantik hat den Fortschritt überstanden, nachts, unterm halben Mond, trawlen küstennah die Fischkutter, deren Gambas, Octopuskinder, Miesmuscheln und Seewölfe die Mamas in den Ristoranti der Altstadt am nächsten Tag auftischen werden. Aus den Bars am Lungomare Argentinia schmalzt der Italopop von Tiziano Ferro, »non me lo so spiegare«. Kein Hupen, vielmehr Gelassenheit.
Der Lungomare ist eine inneritalienische und keine globalisierte Promenade, mit Café-del-Mar-Chill-out und den Ingredienzen des kosmopolitischen Touristen-Lifestyles. Das Flaniermeilchen ist, wie Bordighera selbst, unspektakulär, zur Ruhe zwingend, gefällig. Leider hat man die Promenade unschön asphaltiert, und manchmal haftet ihr etwas Kurorthaftes an, eine merkwürdige Abwesenheit von Glanz und Jugend, morbider Muff in sozialistisch anmutender Betonarchitektur aus den frühen und späten fünfziger und sechziger Jahren, als das Städtchen gewaltsam wieder zur Geltung kommen wollte und es nicht mehr schaffte – aus der Riviera-Bohème war die Côte-d’Azur-Mondäne geworden.
Der einstige »Winterort der Zukunft« hat gegen den Zeitgeist verloren, der sich nizzanischen Chic wählte statt britisch-ligurischer eleganzia. Dem Glamourversprechen Mentons oder Saint-Tropez’ westlich und der Dekadenz Portofinos östlich hat Bordighera nichts weiter entgegenzusetzen als den Charme des Uncharmanten. Es will gar nicht charmant sein. Es ist es selbst. Vor dem ruinierten Cinema Teatro Zeni, dort, wo wir einen Mann namens Fitzroy Hamilton in unseren Träumereien flanieren lassen, sieht und hört man, während sich über Monaco die Sonne senkt, die schnatternde Jeunesse dorée des ligurischen Kleinbürgertums. Man folgt dem eleganten Flug der Silbermöwen, riecht den Jasmin und den Duft der Macchia und gestattet sich, zum letzten Sprühen der Strandduschen, ein bisschen Betörung. Es ist die Symphonie eines Sommers, wie er wahrhafter nicht sein könnte.

Text: Christian Schüle, "Ein Hauch von Jasmin", DIE ZEIT Nr. 30/15.07.2004.
Paradiesische Kulisse. 
Samstag, Oktober 15, 2005, 15:53 - SPURENSUCHE








Hotel Angst, Bordighera. Oktober 2005.
Beutestück. 
Mittwoch, September 14, 2005, 23:56 - SPURENSUCHE
Eines der wenigen noch erhaltenen Objekte, die von der Existenz des früheren Grand Hotels zeugen. Das meiste ist verschwunden oder zerstört.


La sera... 
Montag, August 8, 2005, 20:00 - SPURENSUCHE

Unterschriftensammlung. 
Montag, August 8, 2005, 19:03 - SPURENSUCHE
Das Unmögliche - die Rettung vor der endgültigen Schliessung - wenigstens versuchen.

Interessenten erhalten von mir jede Menge Unterschriftenbogen.

"Wer vom Bahnhof... 
Sonntag, August 7, 2005, 08:51 - SPURENSUCHE
... in Locarno zur Altstadt hinuntergeht, kommt nach wenigen Schritten an einer Passage vorbei, in welcher junge Leute in farbigen Mützen und T-Shirts sitzen, vor sich Kartonschachteln mit Pommes frites und Becher mit Coca-Cola. Die metallenen Tische und Stühle sind über verschiedene Stufen verteilt, die nicht ganz zur Fast Food-Stimmung passen, und wer genauer hinsieht, merkt auch, warum. Es sind die Stufen, die zum Garten des alten Grand Hotels hinaufführen, zum GRAND HOTEL LOCARNO, das wie der Traum einer andern Zeit im Hintergrund steht, umgeben von Zypressen, Palmen und üppigen Rhododendronbüschen, mit seiner mächtigen Mittelterrasse, auf der zwischen Säulen mit Blumenschalen Figuren zu Stein erstarrt sind, als sei soeben die Tanzmusik eines Kurorchesters zu Ende gegangen. Wollen Sie weitergehen zur Piazza Grande, oder haben Sie einen Moment Zeit, eine Geschichte zu hören, die in diesem Hotel ihren Anfang genommen hat? Erfahren habe ich sie in einem Gebäude, das aus derselben Zeit stammt und dem Grand Hotel nicht einmal unähnlich sieht, einem Altersheim in einem der Täler hinter Locarno. Etwas bescheidener der Bau, der Mitteltrakt hinter zwei Ecktürme zurückversetzt, mit einem großen gepflasterten Platz davor, der in eine Glyzinienpergola mündet, aber oben, wo in Locarno der Name des Hotels in auswechselbaren Leuchtbuchstaben prangt, steht beim Altersheim in unvergänglicher Mosaikschrift der Name des Stifters. In dieses Altersheim führte mich letztes Jahr eine private Angelegenheit. Der Kanton Tessin hatte begonnen, die Parzellierung der unzähligen Grundstücke zu vereinfachen und den Besitzern Vorschläge zur Zusammenlegung oder zu Abtäuschen zu machen, und da ich auf einer Alp ein kleines Stück Land mit einem Stall besitze, in dem wir gerne ein paar Sommertage verbringen, kam auch an mich eine solche Anfrage, und ich beschloß, den Besitzer des Nachbargrundstücks aufzusuchen. Der lebte seit kurzem in diesem Altersheim, wir kannten uns, und er freute sich über meinen Besuch, klagte über sein abnehmendes Augenlicht und über seine Zuckerkrankheit, die ihm in die Beine fahre, so daß er kaum mehr gehen könne, kurz, über das ganze zusammenbrechende System seines Körpers, für das man auch das einfache Wort Alter benutzen kann. Er war mit dem Landabtausch, den ich ihm vorschlug, ohne weiteres einverstanden, fragte nach dem Zustand der Quelle, des Baches und der alten Kastanienbäume und erzählte mir von den Zeiten seiner Kindheit, als es im Dorf noch 600 Stück Vieh gab, von denen in unseren Tagen nicht einmal eine einzige Kuh übrig geblieben ist. Während unseres Gesprächs lag sein Zimmernachbar regungslos, mit halb geöffnetem Mund im Bett und ließ nur von Zeit zu Zeit ein leises Stöhnen hören. Als ich ihn einmal fragte, wie es ihm gehe, reagierte er nicht. »Er hört nichts mehr«, sagte mein Bekannter, »er ist bald hundert, und ich glaube, er will schon lange sterben, kann aber nicht.« Wir fuhren mit unserm Gespräch fort, und ich fragte, ob es früher auch schon Wildschweine gegeben habe am Hang oben, da hob sein Bettnachbar den Kopf und sagte: »Un giorno vanno trovare la torta.« »Eines Tages werden sie die Torte finden«, und ließ seinen Kopf wieder sinken. Mein Bekannter lächelte und sagte, das sei das einzige, was der arme Kerl noch sage, und sie nennten ihn deswegen nur »la torta«, ein Spitzname, mit dem er bereits ins Pflegeheim gekommen sei und den er offenbar in seinem Dorf ein Leben lang getragen habe. Aber was der Grund dafür sei, wisse niemand, und es kämen auch keine Familienangehörigen zu Besuch, die man fragen könne. Ich trat zum Bett des Alten, beugte mich über ihn und fragte: »Dove vanno trovare la torta?« »Wo werden sie die Torte finden?« Ohne die Augen zu öffnen, sagte er: »Nel lago.« »Im See.« Ich fragte meinen Bekannten, ob er auch gelesen habe, daß die Seepolizei kürzlich im Lago Maggiore bei einer Suchaktion nach einem Ertrunkenen im Bodenschlamm eine große Blechschachtel mit der Aufschrift "GRAND HOTEL LOCARNO" gefunden habe, in welcher verrostete Zünder gewesen seien, die zu einer Ladung Dynamit gehört haben könnten, und dass ein Rätselraten um diesen Fund entstanden sei.
Kaum hatte ich dies gesagt, fuhr der Alte in seinem Bett hoch, riss die Augen weit auf und (...)

Ausschnitt aus: Franz Hohler, "DIE TORTE". Luchterhand Literaturverlag. ISBN 3-630-87151-8
Hotel Angst. 
Freitag, Juli 29, 2005, 17:51 - SPURENSUCHE
Auch wenn dies hier eher die Art von Grand Hotel ist, in welchen ich zu Gast bin, so möcht' ich doch dem GRAND HOTEL in LOCARNO, das Ende Jahr (wie hier bereits mehrfach erwähnt) seine Pforten endgültig schliessen muss, ein solches Schicksal überhaupt nicht gönnen!
Dieser Link führt zur Geschichte des Hotels ANGST, zu einer der "prächtigsten" Hotelruinen an der ligurischen Küste; seit Jahrzehnten im Dornröschenschlaf.

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