Freitag, Dezember 16, 2005, 22:20 - ESSEN & TRINKEN
Von einem, der es wissen muss: Gérard Liger-Belair ist Professor an der Universität in Reims und berät die Forschungsabteilung des Champagnerherstellers Moët & Chandon.
Über die "bulles du plaisir" erfährt man u.a.:
Sowohl Bier wie Schaumwein enthalten Kohlendioxid. Etwa zwölf Gramm dieses Gases stecken in einem Liter Champagner. Öffnet man die Flasche, entweicht das Kohlendioxid unter anderem in Form aufsteigender Blasen. Der Fachmann hat ausgerechnet, dass aus einem vollen Champagnerglas theoretisch elf Millionen Gasbläschen entweichen könnten – «mehr als die Einwohnerzahl von New York».
Wie und wo die Bläschen im Glas entstehen, untersuchte Liger-Belair mit Hilfe von Hochgeschwindigkeitsvideokamera und Mikroskop. Dabei stiess er auf eine Überraschung: Blasen brauchen Schmutz!
Was man bereits wusste: Zur Entstehung einer Blase braucht es eine Art Keimzelle, in der sich die Kohlendioxidmoleküle zusammenfinden – ein mit Gas gefüllter Hohlraum. Bisher glaubte man, dass Kratzer und Unebenheiten auf dem Glas solche Keimzellen bilden – eine falsche Annahme. Denn bei den Laborexperimenten stellte sich heraus, dass Verunreinigungen, die an der Glaswand haften, Auslöser der Bläschen sind. Meist sind es hohle, zylinderförmige Zellulosefasern aus der Luft oder vom Geschirrtuch.
«Dass Champagnerbläschen durch ‹Schmutz› oder teilchenförmige Verunreinigungen auf der Glasoberfläche entstehen, ist eine seltsame Vorstellung», gibt der Experte zu. Doch Experimente bestätigten den Sachverhalt: Füllt man Champagner in einen vollkommen sauberen Behälter, bilden sich tatsächlich keine Bläschen. Dann entweicht das überschüssige Kohlendioxid nur direkt durch die Oberfläche der Flüssigkeit.
Dies ist mit ein Grund, warum Sekt bisweilen nicht perlt, wenn die Gläser in der Spülmaschine gewaschen und nicht mit einem Tuch getrocknet wurden. Zudem wirkt Spülmittel an der Glaswand als Schaumkiller, indem es die durchschnittliche Lebensdauer der Bläschen stark verkürzt. Das Gleiche gilt, wenn Fett mit den Blasen in Kontakt gerät.
Die Champagnerperlen sind nämlich umgeben von einer Schicht aus organischen Makromolekülen, darunter Proteine und so genannte Glykoproteine, die im Schaumwein natürlicherweise vorkommen. Diese Schicht schützt die Blasen vor dem schnellen Zerplatzen an der Flüssigkeitsoberfläche, wie man es beispielsweise bei kohlensäurehaltigem Wasser beobachtet. Es sind also die Champagnerproteine, die für den Schaumkranz im Glas sorgen.
Gelangt ein Tropfen Fett auf die Schutzschicht, breitet er sich rasch aus und zerbricht sie – die Blasen verschwinden. Deshalb fällt der Schaumkranz oft blitzartig zusammen, wenn man zum Champagner Erdnüsse oder Pommes Chips isst. «Auch Lippenstift enthält Fettsubstanzen und sorgt dafür, dass die Bläschen nach dem ersten Schluck sehr schnell weniger werden», schreibt Liger-Belair. Dass die Blasen überhaupt an die Oberfläche des Glases steigen, ist eine Folge des Auftriebs, also jenes Prinzips, das Archimedes bereits vor über 2000 Jahren entdeckt hat: Da die Dichte der Blasen geringer ist, als die Dichte der Flüssigkeit, die sie verdrängen, bewegen sie sich nach oben. Dabei sammeln sich immer mehr Kohlendioxidmoleküle an, die Blasen werden grösser, ihr Auftrieb stärker, und die Bewegung nach oben schneller.
(Archivbild aus a.more.s' bewegtem Champagnerleben)
Weil das Aufsteigen über den Auftrieb mit der Schwerkraft verbunden ist, drängt sich laut Liger-Belair die Frage auf, was in der Schwerelosigkeit passiert. Die Antwort des Physikers: Öffnet man eine Flasche Champagner an Bord einer Raumstation, können die Blasen wegen des fehlenden Auftriebs nicht aufsteigen, sie bleiben an der Flaschenwand, werden aber immer grösser, bis sie die Flüssigkeit verdrängen, die schliesslich aus der Flasche quillt.
Der Forscher hat sich sogar überlegt, wo man in unserem Sonnensystem ein Glas Champagner mit den kleinsten und feinsten Perlen geniessen könnte – auf dem Jupiter. Weil dort die Schwerkraft am grössten ist, ist der Auftrieb am stärksten; die Bläschen steigen am schnellsten auf und bleiben am kleinsten.
Auf der Erde dauert es eine bis fünf Sekunden, bis ein Champagnerbläschen die rund zehn Zentimeter vom Entstehungsort an der Glaswand bis zur Flüssigkeitsoberfläche zurückgelegt hat. Sein ursprünglicher Durchmesser von rund zehn Mikrometer wächst dabei bis zu einem Millimeter. Wie bei einem Eisberg taucht an der Oberfläche nur ein kleiner Teil aus der Flüssigkeit auf, die so genannte Blasenhaube. Jetzt kommt laut Liger-Belair «das letzte und bestimmt spektakulärste Ereignis im Leben einer Champagnerperle» – das Zerplatzen.
(Barbara Vonarburg im TAGES-ANZEIGER vom 20.10.2005)
Gérard Liger-Belair: Entkorkt. Wissenschaft im Champagnerglas.
Elsevier Spektrum Akademischer Verlag, 2005.
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