jms 6 
Samstag, Juli 15, 2006, 22:16 - LEBENSLAUF
Ich...
...erinnere mich – v.a. weil das Bergdorf, in welchem ich aufgewachsen bin, im Moment wegen dem gewaltigen Felsabbruch am Eiger (>Video ganz unten) in den Medien omnipräsent ist – dass mich mein Mathematiklehrer während der Sekundarschulzeit (und auch noch danach) immer zu den jährlichen Vermessungen des Oberen Grindelwaldgletschers (der Untere war unzugänglich) mitgenommen hat, was stets gleichbedeutend war mit einer mindestens halbtägigen Expedition ins Herz des (in Werbeprospekten so genannten) „Gletscherdorfes“. Im Fels waren verschiedene Fixpunkte aufgemalt, von denen aus man die Distanz (mit dem Messband) bis zur Gletscherzunge mass. Die Ergebnisse gaben Auskunft über Vorstoss oder Rückzug des Eises und wurden zu statistischen Zwecken fein säuberlich notiert. Weil sich der Gletscher damals (ca 1965 - 1980) in ständiger Bewegung befand, mussten manchmal vorsorglich auch gleich neue Fixpunkte auf den Fels gepinselt werden. Wieso ausgerechnet ich die Ehre des Auserwählten beanspruchen durfte (und diese auch ausgiebig genoss), daran erinnere ich mich hingegen nicht (mehr).
Die Messungen können heute nicht mehr vorgenommen werden, da sich das Eis hier ebenfalls in unzugängliche Höhen zurückgezogen hat.

Ich erinnere mich sehr genau an: Kröner – Gustave Le Bon – Psychologie der Massen. Das Buch lag plötzlich einfach da, als ich etwa 18 Jahre alt war. Woher es kam, weiss ich nicht, ich weiss nur, dass ich es verschlungen habe, und wiedergelesen, und nochmals und nochmals und nochmals wiedergelesen – ich bekam sozusagen nicht genug davon. Ich habe es dann sogar auch einfach mitlaufen lassen, weil ich mich nicht von ihm trennen mochte. Die Gedanken eines Fachmannes über Menschen, welche in der Masse von ihrem normalen Ich völlig abweichen, jegliche Persönlichkeit wie auch jegliches Verantwortungsgefühl verlieren, wie der Einzelne allein durch die Tatsache der Menge über eine unwiderstehliche Macht zu verfügen glaubt… die Gewissheit der Straflosigkeit in der Masse, die Mechanismen zu Beeinflussung, zur Manipulation der Massen – all diese Erkenntnisse, zu denen ich (eher unbewusst als bewusst) zumindest ansatzweise auch schon irgendwie gekommen war, die lagen nun da, greifbar, vor mir, schwarz auf weiss durchformuliert. Ich war völlig hin. Obwohl von Le Bon heute kaum noch jemand spricht - sein Buch hat mich wahrscheinlich sehr geprägt.

Ich erinnere mich im Zusammenhang mit dem eben Erinnerten, dass mich Jahre später (1992) nochmals ein Buch mit ähnlicher Thematik total fasziniert hat: Bill Buford, „Among the thugs“ (deutsch etwas reisserisch: Geil auf Gewalt; Hanser).
Auf einem einsamen Bahnhof in Wales kommt Buford zum erstenmal in Berührung mit einem Phänomen, das ihn von da an nicht mehr loslassen wird: Er wird zufällig Zeuge, wie ein Sonderzug voller Fussballfans vorbeifährt, gröhlend, gewalttätig, ausser Rand und Band. Er schleust sich unter die Fans und begleitet sie quer durch Europa (…)
Die nachfolgenden Kapitel haben so vielsagende Titel wie Cardiff – Manchester – Turin – Fulham – Düsseldorf, etc. Der Prozess, welcher mehr oder weniger normale Menschen jeden Samstag eint und von einem bestimmten Moment an zu einer brisanten Masse macht, ist seit Canettis "Masse und Macht" wohl nicht mehr so eindringlich, aus dem Inneren, beschrieben worden.
Die rund 400 Seiten starke ethnologische Phänomenologie ohne Unterbruch gelesen - das weiss ich genau.

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